Deutsche Gegenwartsliteratur:Tanz der Papiervampire

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Je näher man die Literatur betrachtet, desto ferner blickt sie zurück: Uwe Timms luzider Essayband "Montaignes Turm" ist nicht zuletzt ein diskretes Selbstporträt seines Autors.

Von Ulrich Rüdenauer

Es ist mehr als nur eine schöne Geste, wenn Uwe Timm seine neue Essaysammlung mit einem Text über den Urvater des Genres eröffnet: "Montaignes Turm" heißt der Aufsatz, der dem ganzen Buch seinen Titel gibt. Dieser Denkerturm ist sehr konkret, hat aber zugleich etwas Emblematisches. Er beherbergte die Bibliothek des skeptischen Geistesverwandten Timms, eine der ersten privaten Büchersammlungen überhaupt.

Der Turm, der über das Schlösschen Montaigne hinausragte, lässt sich heute noch besichtigen. Und als Uwe Timm sich bei einem Besuch in den kastellartigen Räumlichkeiten umsah, schienen sie ihm das zu verbinden, "was die beiden idealtypischen Formen einer entschiedenen Abgrenzung zur Welt sind: Turm und Höhle". Der Arbeitsplatz als Fluchtort und wehrhafter Ausguck - der Kontemplation muss ebenso sehr der neugierige Blick auf die Umgebung beigesellt sein.

Auf die mythischen Elemente des Erzählens mag Timm so wenig verzichten wie auf das Fabulieren

Timm erfasst in seiner Miniatur das Wesen des Philosophen und seines Schreibens. Zwischen rundem Turm und Montaignes Schriften besteht nämlich eine Homologie: "Die Essais sind nicht systematisch auf eine Erkenntnisfindung ausgerichtet, sondern assoziativ, kreisend, fallen sich oft widersprechend ins Wort, ein gedankliches Schweifen durch die Buntheit der Welt, auch durch die der Lektüre, eine suchende, registrierende Bewegung, die letztendlich immer wieder zurückführt in den Turm, wo all die Überlegungen und Gedanken dann zu sich kommen."

"Madame Chauchat hat mich, das darf ich hier sagen, über die Lektüre hinaus beschäftigt": Uwe Timm. (Foto: David Ebener/dpa)

Uwe Timm beschreibt damit recht genau, was seine eigenen Bücher ausmacht - die erzählenden wie auch die essayistischen. Wenn er etwa in einem Vortrag die deutsche Sprache lobt, dann den ihr innewohnenden Sprachzweifel, das komplexe Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit. Immer wieder umkreist Uwe Timm seine Gegenstände mit einer spielerischen Beharrlichkeit, lässt sich überraschen, weil ihm Vorgefasstes zuwider ist. Sein Denken wird vom Fabulieren bestimmt, weshalb er immer wieder ins Geschichtenerzählen verfällt, Kindheitserinnerungen sich in einen Gedankengang schieben oder diesen allererst auslösen. "Das Erzählen mit seinen mythischen Elementen ist existenzial", schreibt er, "es richtet sich an die vergleichende Vorstellungskraft."

In "Montaignes Turm" sind zehn Essays versammelt, geschrieben zu unterschiedlichsten Anlässen zwischen 1997 und 2014. Thematisch sind die Texte kaum unter einen Hut zu bringen - sie handeln von "Mythos und Erzählen" und von Grimms Märchen, beschäftigen sich mit Aspekten der Homosexualität in Wolfgang Koeppens Werk und der Frage, inwieweit Schreiben eine handwerkliche Tätigkeit ist, oder sie widmen sich auf minutiöse Weise einer Wiederlektüre von Thomas Manns "Zauberberg", von dem Timm schließlich hinabsteigt in die Abgründe der Welt, in ein Flüchtlingslager in Dafur, von wo er eine aufrüttelnde Reportage mitbringt.

Wenn man eine Gemeinsamkeit der Essays benennen müsste, so wäre es wohl die behutsame Suche nach Erkenntnissplittern in der Literatur und der Wirklichkeit, in der deutschen wie der eigenen Geschichte. "Die gewöhnlichen Dinge als ungewöhnlich sehen, der vertrauten Sprache unvertraut begegnen, nahe Menschen - also auch sich selbst - von fern betrachten und darüber erzählen" - das forderte Timm 1993 in seinen Paderborner Poetikvorlesungen, und diesem Anspruch an sein Schreiben bleibt er bis heute treu.

"Montaignes Turm" ist ein emphatisches und empathisches, ein staunendes und poetologisches, neugieriges und neugierig machendes Buch. Uwe Timm lässt uns darin an seiner Begeisterungsfähigkeit teilhaben. Es trägt aber zugleich das Unbehagen in sich, dass die Voraussetzungen jenes Schreibens, Lesens und Lebens, das seine Autorschaft prägt, im Verschwinden begriffen sein könnten. Dass Literatur immer mit Vergänglichkeit zu tun hat, ist eine Binse: Wir lesen die Bücher von Toten, und aus ihnen heraus sprechen Tote zu uns. Als Vampire, so hat es Uwe Timm einmal ausgedrückt, lauern die Bücher in Türmen und Bibliotheken und saugen uns die Lebenszeit aus. "Allerdings verlieren der Turm und das Gehäuse in unserer Zeit an Bedeutung und mit ihnen auch die dort auf den Leser wartenden Bücher: In Zukunft, auf elektronische Dateien geschrumpft, wird man sie zu Tausenden mit sich herumtragen können, buchstäblich in der Tasche, zum beliebigen Zugriff auf alles und jedes. Das hat seinen Preis: den Verlust jener sinnlich sinnhaften Spuren, die dem Papier und dem Buch anhaften, und auch den Verlust der Aura der sie bewahrenden Räume. Wer weiß, vielleicht werden die Bibliotheken in nicht zu ferner Zukunft zu musealen Orten - wie heute schon der Turm Montaignes."

© SZ vom 05.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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