Deutsche Gegenwartsliteratur:Jetzt geht die Post ab

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Wenn das Internet abgeschafft ist: In ihrem Debütroman "Serverland" erzählt Josefine Rieks von Eingeborenen der digitalen Welt, die wieder mit Landkarten reisen und mit Stiften auf Notizblöcke schreiben.

Von Meike Feßmann

Als Tim Berners-Lee am Genfer Kernforschungszentrum Cern das Kommunikationsnetz erfand, das später zum World Wide Web wurde, war Josefine Rieks gerade mal ein Jahr alt. Sechs Jahre war sie, als er das ursprünglich für die Kommunikation von Wissenschaftlern entwickelte Netz für die Öffentlichkeit freigab und dabei auf Patentierung und Lizenzgebühren verzichtete. Zehn Jahre, als Google seinen Siegeszug begann, und sechzehn bei der Gründung von Facebook. Die 1988 in Höxter geborene Autorin geht nun mit einem Debütroman an den Start, der auf eigenwillige Weise mit dem Generationenlabel "Digital Native" spielt.

"Serverland" ist clever, entspannt, lässig und unbekümmert. Josefine Rieks mischt die Genres, ohne dass das literarische Experiment im Vordergrund stünde. Sie nimmt sich, was sie brauchen kann, und fügt die Elemente von Dystopie, Roadnovel und Versuchsanordnung im Geiste Becketts zu einem schlichten Plot mit höchst origineller Zeitstruktur. Denn "Serverland" wirft einen in die Zukunft projizierten Retroblick auf die eigene Generation. Die könnte dabei womöglich entdecken, dass sie in der besten aller möglichen Welten lebt.

Ein undurchsichtiges Referendum hat zu der Entscheidung geführt, das Internet abzuschalten

"Serverland" spielt nach dem Ende der "Computerkultur", also jener Zeit, in der wir gerade leben, in der uns das Internet und erfindungsreiche Konzerne Tag für Tag blendend unterhalten, mit neuen Gadgets versorgen und gelegentlich auch gut informieren. Wie es zu diesem Ende gekommen ist, damit hält sich der Roman nicht lange auf. Es gab ein Referendum, das zu der Entscheidung führte, das Internet abzustellen. Wie das genau vonstatten ging, erfahren wir nicht. Aber der Brexit, Trump, Puigdemont und die Koalitionsschauspiele nach der Bundestagswahl haben unseren Möglichkeitshorizont genügend erweitert, um uns das vorstellen zu können: Es gibt kein Internet mehr.

Rechner werden nur noch von Nerds gesammelt und auf Flohmärkten verkauft. Man schreibt wieder mit Stiften auf Notizblöcke, bemüht für Reisen Landkarten, und auch die Zeitungen spielen wieder eine größere Rolle. Alles also so, wie es sich viele wünschen - wenn auch nicht unbedingt die Angehörigen von Josefine Rieks Generation.

Die aber sind längst in die Jahre gekommen. Aus ihren erwachsenen Kindern rekrutiert sich das Romanpersonal, allen voran Reiner und Meyer, zwei ehemalige Klassenkameraden Mitte zwanzig. Sie leben in Berlin und bilden das klassische ungleiche Duo, wie es Krimis, Jugend- und Abenteuerromane lieben. Reiner arbeitet als Zusteller bei der Post und kennt sich mit Technik aus. Meyer träumt vom großen Geld und hat mitbekommen, dass auf irgendwelchen Industriebrachen in alten Hallen Daten lagern. Wie die gespeichert sind und wie man an die rankommt, weiß er nicht, wohl aber, was man damit anstellen könnte: "Stell dir mal vor, was irgendwelche alten Knacker unter der Hand dafür bezahlen würden, wenn man ihnen eine Kopie von ihrem alten Facebook-Profil anbieten würde ... oder noch besser von Leuten, die sie gekannt haben!"

Vom Wedding, wo der Ich-Erzähler Reiner wohnt und seine Lieblingskneipe steht - das "Soldiner Eck" konnte sich offenbar ebenso in die Zukunft retten wie Schultheiss und Haribo -, geht es mit einem alten Scirocco erst einmal in ein Industriegebiet nach Spandau. In den Serverräumen packt Reiner die "Ehrfurcht": "In diesen Schränken lagen wahrscheinlich Milliarden von Dateien gespeichert. Geschrieben von unseren Eltern. Von einer ganzen Generation, die ihre Gedanken allen anderen zugänglich gemacht hatte. Sie hatten sich davon etwas versprochen, etwas Unklares, das sie nicht beschreiben konnten. Davon ging ich zumindest aus."

Das Freiheitsversprechen der Gründerjahre des Internets verbindet sich mit einer Gemeinschaftsutopie, die der Roman im Zeitraffer durchspielt. Sein Motto zitiert nicht von ungefähr die Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace, die der kürzlich verstorbene Internetpionier und Grateful Dead-Texter John Perry Barlow 1996 auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos vortrug. Auf Barlow geht auch die Abgrenzung der digitalen "Eingeborenen", für die das Netz ein Umfeld ist, in dem sie sich frei und selbstverständlich bewegen, von ihren Eltern zurück, die immer "Einwanderer" bleiben und deshalb nach staatlicher Reglementierung rufen.

Der Einbruch in die Serverhalle von Google ähnelt dem Eintritt in die Bibliothek von Alexandria

In Berlin ist das Duo mit seiner Datenschürfung nicht übermäßig erfolgreich. Und so geht die Fahrt mit "Zehner-Hiphop" von K.I.Z. bis Antilopen Gang weiter nach Eemshaven in den Niederlanden. Dort, im Rechenzentrum von Google, kann Reiner mit einem selbst geschriebenen Programm nicht nur allerhand Youtube-Videos und Computerspiele abgreifen, dort befindet sich auch eine Gruppe junger Leute, die, inspiriert von Unruhen in New York, den Aufstand probt und mit neuen Lebensformen experimentiert. Es wird viel gekifft, diskutiert und durch die Gegend geliebt. Täglich kommen neue User dazu, von denen keiner so ernsthaft an der Sache interessiert ist wie der Erzähler. Eines Tages kommt er auf die Idee, DVDs per Post nach dem Zufallsprinzip zu verschicken, um so eine Art primitives Internet nachzubauen. Und schon nimmt das Unheil seinen Lauf.

Josefine Rieks hat Philosophie studiert und für ihr Romanprojekt das Alfred-Döblin-Stipendium erhalten. "Serverland" inszeniert auf überschaubarem Spielfeld die Praktiken, Mythen, Hoffnungen und Probleme, die sich in den letzten Jahrzehnten aus der Digitalisierung entwickelt haben. Vom beinahe schon ewig wirkenden Streit, wer der Größere war, Steve Jobs oder Bill Gates, und welches Betriebssystem das bessere ist, über bevorzugte Spiele, Musikstile, bis hin zu Anonymous, Feminismus im Netz, Ordnung und Chaos, läuft der rote Faden zu der Frage hin, wie sich die Energie von sozialen Bewegungen organisieren lässt, ohne vom Konsum oder von staatlichen Institutionen gekapert zu werden.

Wie Matthias Senkels Roman "Dunkle Zahlen" ( SZ vom 10. Februar) gehört "Serverland" zu jener spannenden neuen deutschen Literatur des Frühjahrs, in der die Generation der Digital Natives ihre Erfahrungen erkundet, indem sie Technikgeschichte imaginiert. Eher dem Geist des Hackens verpflichtet als dem Ruf nach staatlichem Eingreifen, mäandert sie lustvoll zwischen Utopie und Katastrophe. Mit Roman Ehrlich, Leif Randt, Nis-Momme Stockmann und Matthias Nawrat hat die deutschsprachige Literatur in den letzten Jahren unterschiedlich temperierte Dystopien hervorgebracht, denen etwas Spielerisches, gelegentlich fast Kindliches oder Pubertäres gemeinsam ist.

Josefine Rieks gibt dieser Bewegung einen Dreh ins Lässige, wenn sie die Form der Roadnovel verwendet, um eine große Frage aufzuwerfen: Was würde mit unserem biografischen Gedächtnis geschehen, wenn unsere persönlichen Archive, die wir vertrauensvoll auf Server auslagern, eines Tages einfach nicht mehr zugänglich wären? Wie würde es sich anfühlen, wenn all die Fotos, Nachrichten, Musik- und Video-Dateien, die wir für unseren persönlichen Besitz halten, ohne zu wissen, wo sie gespeichert sind, einfach nicht mehr abrufbar sind? Den Einbruch in die Serverhalle von Google vergleicht der Erzähler mit dem Gefühl eines Forschers, der die Bibliothek von Alexandria betritt. Doch die Daten, die wir auslagern, sind viel persönlicher. "Serverland" ist ein Roman von klugem Understatement, kühl unterspielt und prägnant erdacht. In der Vintage-Ästhetik seiner beiläufigen Nostalgie verbrüdern sich Katastrophe und Utopie.

Josefine Rieks: Serverland. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2018. 176 Seiten, 18 Euro. E-Book 13,99 Euro.

© SZ vom 21.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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