Deutsche Gegenwartsliteratur:Inventur der Heimat

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Norbert Scheuer schreibt mit "Am Grund des Universums" seinen Eifel-Kosmos fort. Im Zentrum dieser kleinen Welt steht ein Supermarkt-Café, der Beobachtungsposten für die Rätsel des Alltags.

Von Ulrich Rüdenauer

Auf den ersten Blick hat eine an den Supermarkt angedockte Cafeteria mit dem klassischen Kaffeehaus wenig gemein. Sie ist Teil jener eigenschaftslosen Durchgangsorte, die, meist an den Rändern der Städte gelegen, sich gar keine Mühe mehr geben, Heimeligkeit vorzugaukeln - sie greift jene müden Alltagsbewältiger ab, die sich durch die Flure von Malls und die Regalreihen von Aldi schleppen. Weit und breit keine Inspiration und romantische Verklärung; hier hat vielmehr die Leere des Jetzt seine architektonische Umsetzung gefunden.

Dachte man bisher. Dachte man in der leicht versnobten Ignoranz, mit der man durch die Welt stolpert. Und denkt man fortan nicht mehr. Denn es gibt einen Autor, der an diesem Nicht-Ort alles gefunden hat: das ganze komische, verrückte Leben, ein Füllhorn an Geschichten, das Zentrum des großen Welttheaters. Es liegt mitten in einer kleinen Stadt, 5000 Einwohner hat sie und trägt den Namen Kall. Dieses Kall in der Eifel gibt es zwar wirklich, man kann es auf der Landkarte entdecken und ganz real durch seine Gassen spazieren. Aber Norbert Scheuer hat diesen Ort zugleich erfunden. Er hat ihn in einem knappen Dutzend Romanen und Erzählungsbänden zum literarischen Kosmos geformt, wie es William Faulkner mit dem Lafayette County, James Joyce mit Dublin oder Sherwood Anderson mit Clyde, Ohio, getan hat. Er hat ihm eine eigene Topografie, eigene Familienstammbäume, eine eigene Historie gegeben. Und die Supermarkt-Cafeteria, in der all die sich durchs Eifelstädtchen ziehenden Wege und vom Autor gelegten Fäden zusammenlaufen, ist in seinem neuen Roman die Wirkungsstätte einer Gruppe alter Männer: "Die Grauköpfe sind eine fünf- bis zehnköpfige Hydra, der nichts entgeht, die immer dort ist, wo in Kall und Umgebung gerade etwas abgerissen oder gebaut wird, sie wissen über alles Bescheid." Jeden Morgen treffen sie sich in ihrem ausgelagerten Wohnzimmer, das von allerlei Paaren und Passanten durchquert wird: Die Grauköpfe aber sind Stammgäste, sie bilden den höchst neugierigen, antiken oder besser leicht antiquierten Chor. Sie sammeln, kommentieren, bewerten. Ihren Ohren entgeht nichts. Sie sind die vielstimmige und vielköpfige Verkörperung des beobachtenden Autors, der sich möglicherweise klammheimlich in dieses Ensemble hineingeschmuggelt hat wie die alten Meister in ihre Gemälde.

Ein Stausee soll entstehen und den kleinen Ort auf die touristische Landkarte setzen

"Am Grund des Universums" heißt der neue Roman von Norbert Scheuer, und er schreibt damit seinen großen anti-idyllischen Heimat-Zyklus in meisterhaft komprimierten Szenen fort: Episodenhaft ist das Buch um die Graukopf-Gesänge herum aufgebaut; in den kurzen Kapiteln blicken wir in Lebensabgründe und manchmal auch dem Glück direkt ins Auge. Wir begegnen alten Bekannten wieder, Namen, deren Nennung allein uns schon zu Hause fühlen lässt in diesem Eifelstädtchen, in dem wir niemals leibhaftig waren, wie Paul Arimond, der im letzten Roman "Die Sprache der Vögel" als Soldat in Afghanistan war und die dortige Vogelwelt studierte, um sowohl der Gegenwart als auch seinen Erinnerungen zu entfliehen. Scheuer kann ganze Biografien in Andeutungen aufscheinen und in kurzen Nebensätzen die Vergangenheit gegenwärtig werden lassen. Trotz der Vielzahl an miteinander verknüpften Erzählungen und Charakteren, die er "Am Grund des Universums" versammelt, gibt es doch zwei heimliche Hauptfiguren. Die junge Nina, von ihrer Mutter im Stich gelassen, spinnt sich ihre Welt im Kopf zurecht, spricht mit ihrem verschwundenen Bruder, den sie sich morgens beim Zeitungsaustragen auf ihren Bollerwagen fantasiert und durch die dunklen Gassen der Stadt zieht. Und da ist die ebenfalls verlassene, pensionierte Lehrerin Sophia Molitor, die ihren eigenen Traumgespinsten und ihrem vor Jahrzehnten verstorbenen Gatten nachhängt. Ihm zuliebe trägt sie chinesische Gewänder; sie übersetzt Laotses "Daodejing", versinkt ganz im konfuzianischen Denken und kommt der Welt langsam abhanden. Sophia kümmert sich um Nina, die fantastischerweise zwar schreiben, aber nicht lesen kann. Sie fühlt sich ihr nahe, was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass Ninas Großvater die große, heimliche Liebe Sophias war. So ist alles miteinander verwoben in diesem Roman, der wieder mit allen anderen Büchern Scheuers verbunden ist.

Zwischen 2006 und 2014 ist dieser Text angesiedelt, und das Ereignis, von dem erzählt wird und von dem nicht nur die alten Männer aufs Höchste affiziert sind, ist die Vergrößerung des Sees und der Bau eines neuen Staudamms im Urftland. Ein Ferienzentrum soll entstehen, Kall auf die touristische Landkarte gesetzt werden. Eine hochstaplerische Spekulation auf die Zukunft, der viele Bürger und auch die Grauköpfe erliegen, und die sich freilich doch nicht auszahlen wird. Die Arbeiten an diesem Großprojekt bilden das Gerüst des Buchs. Die Bauteile des Staudamms dienen Scheuer als Kapiteltitel: Böschung, Dammkrone und Dammsohle, und diese Bezeichnungen verweisen ziemlich genau auf die Konstruktionsprinzipien und den Verlauf dieses Romans.

Norbert Scheuer: Am Grund des Universums. Roman. C.H. Beck, München 2017. 240 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 15,99 Euro. (Foto: N/A)

Es wäre also nicht ganz falsch, von Norbert Scheuer als realistischem Erzähler zu sprechen. Aber es wäre auch zu wenig. Kein magischer, aber ein verzauberter Realismus zeigt sich in seinen Texten zuweilen. Nicht nur, weil er seine Figuren mit ihren Spleens und Beschädigungen in kuriose Situationen bringt. Oder ihnen eine Traumexistenz zubilligt - wie dem Elektriker Lünebach, der an einem Raumschiff bastelt, mit dem er ans Ende des Weltalls fliegen möchte. Norbert Scheuers Figuren sind allesamt auf fatale Weise gebunden an ihre Herkunft, an ihre Heimat - aber in Gedanken versuchen sie, die engen Grenzen hinter sich zu lassen, sie paddeln über die Weltmeere oder glauben fest an einen Silberschatz, der in den längst aufgegebenen Stollen unter Tage versteckt sein soll. Verzaubert aber ist dieses realistische Erzählen auch, weil Norbert Scheuer die Gabe besitzt, das Unscheinbare, die Menschen, die Landschaft durch seine poetische Sprache zum Leuchten zu bringen: "Der Fluss mäanderte durch das Tal, Nebelschleier stiegen empor und verschwanden im Licht der Sonne. Autos krochen über die serpentinenartige Straße aus dem Städtchen hinaus, verschwanden hinter Häusern am Ortsrand, um auf dem Höhenrücken wie krabbelnde Käfer wieder aufzutauchen."

Scheuer sagte einmal, dass er immer an einem Ort bleiben und dort schreiben müsse, weil er erst etwas sehen könne, wenn er einen Weg fünfzig Mal gegangen sei. Er ist ein Beobachter und ein Suchender wie seine Figuren. Wie Gérard Roussel vielleicht, den wir in einem früheren Buch Scheuers als Kneipenwirt kennengelernt haben und der nun einen kurzen Auftritt als Verfasser einer Chronik über Kall hat. Er ist ein Heimatforscher, der nach Dingen sucht, "die in der Tiefe dieses Gewässers zu finden sind. Zahlreiche seiner Fragmente handelten nur von den Gegenständen, die auf dem Grund im Schlamm liegen, von ihren Geschichten, die, sobald sie in der Erinnerung auftauchen, wieder unter der Oberfläche verschwinden." In Scheuers Roman tauchen diese Dinge tatsächlich auf. Die seitenlange Aufzählung der Gegenstände birgt hundertundeine Geschichten: "... ein Fahrtenmesser ... der Steg einer Violine, an der noch Saiten hingen ... ein alter Zahnarztstuhl mit Teleskop ... ein Treppengeländer ... eine Führerbüste aus Bronze ..."

Nichts vergeht - dieses Inventar des Verlorenen, Verworfenen, Vergangenen illustriert das. Auch Norbert Scheuers Kall wird nicht mehr verschwinden. Es ist der Grund des Universums.

© SZ vom 10.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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