Deutsche Gegenwartsliteratur:Glühendes Leben

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Angela Steidele erzählt in ihrem preisgekrönten Roman "Rosenstengel" von Ludwig II. und einer Transsexuellen des frühen 18. Jahrhunderts.

Von Frauke Meyer-Gosau

Da hat sich aber jemand viel vorgenommen: nicht eine zentrale Geschichte zu erzählen, sondern in ein und demselben Roman gleich zwei, die zudem gut anderthalb Jahrhunderte auseinanderliegen. Und zu den darin aufgefächerten Intrigen in Politik, Kirche und Psychiatrie und zur Geschichte der frühen Sexualmedizin samt dem schäumenden Frauenhass ihrer Protagonisten endlich noch eine dritte über zwei religiös spintisierende Radikal-Pietistinnen zu stellen, die sich an Vorstellungen vom mann-weiblichen Wesen der Frau erhitzen. Dies alles in Form eines vielstimmigen Briefromans, der sich die Schriftsprache sowohl des frühen 18. als auch des späten 19. Jahrhunderts zu eigen machen muss.

Am Ende von Angela Steideles Roman "Rosenstengel", der gerade mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet wurde, kennen wir die letzten Lebensjahre Ludwigs II., und alle, die darin eine wesentliche Rolle spielten, stehen uns vor Augen: zweifelhafte Freunde, grausame Ärzte und machtgierige Politiker. Und die Geschichte der Transsexuellen Catharina Linck im frühen 18. Jahrhundert kennen wir auch, die zum Gegenstand von Berichten und ideologischen Kämpfen zumeist religiöser Eiferer wurde. Die Frau, die seit ihrem 15. Lebensjahr möglichst Männerkleider trug, nannte sich in ihrer männlichen Existenz Anastasius Rosenstengel, kämpfte als Musketier im Krieg und scheint ein Frauenheld und Herzensbrecher gewesen zu sein. Dreimal wurde er getauft (erst protestantisch, dann katholisch, dann wieder protestantisch), gleich zweimal heiratete er Susanna Elisabeth Mühlhahn (einmal nach protestantischem, einmal nach katholischem Ritus), zweimal wurde er zum Tode verurteilt. Gewaltsam gingen beide Leben zu Ende: Catharina Linck wurde 1721 hingerichtet. Der verschwendungssüchtige Ludwig, von seinem Onkel entmachtet, ertrank am 13. Juni 1886 im Starnberger See. Mord oder Selbstmord? Angela Steidele entwirft auch darauf gleich zwei mögliche Antworten, das letzte Wort hat hier "Sisi", Kaiserin von Österreich und Ludwigs engste Freundin.

Ludwig II. in Gestalt von O. W. Fischer umarmt seinen Bruder Prinz Otto von Bayern, dargestellt von Klaus Kinski im Film "Glanz und Ende eines Königs" von Helmut Käutner aus dem Jahr 1954. (Foto: picture alliance)

Viel historische Gelehrsamkeit ist nötig, um die Geschichten vom Leben und Ableben eines einstigen Waisenkinds und eines bayerischen Königs von allen Seiten zu beleuchten - die Bibliografie der wissenschaftlichen Quellen im Anhang des Buches ist eindrucksvoll. Und doch fragt man sich, je länger man liest, weshalb die Verschränkung dieser grundverschiedenen Biografien überhaupt sein musste. Wäre nicht eine von ihnen allein bewegend genug gewesen? Im Roman selbst findet sich ein Hinweis, den Angela Steidele dem Juristen und Aufklärer Christian Thomasius in einen Brief hineingeschrieben hat: "Anastasius Rosenstengel tauget (. . .) allenfalls zur Heldin eines noch zu schreibenden Romans, in welchem allerley Schertze verstecket, welche jedoch auch unentdecket vorübergehen mögen, ohne daß der Lehr sonderlich ein Abbruch damit geschähe."

Ein Lehrstück also ist des Rätsels Lösung. Wohl, damit nicht der Eindruck entsteht, bei Rosenstengel handle es sich um einen historischen Sonderfall, wird sein Schicksal verzahnt mit der Geschichte des Märchenkönigs, ihr gemeinsamer Fixpunkt ist die Sexualität: Ist Rosenstengel ein Transsexueller des frühen 18., so Ludwig ein Schwuler des späten 19. Jahrhunderts. Beide erleiden Ausgrenzung und Gewalt seitens ihrer Zeitgenossen.

Mit einem Kunstgriff verdrahtet Steidele ihre beiden Lehr-Beispiele durch den jungen Nervenarzt Franz-Carl Müller, der (abweichend von der realen Geschichte) zum Geliebten des Bayernkönigs wird, während er sich mittels der historischen Briefe in die wissenschaftliche Erforschung des Falles Rosenstengel vertieft. Ludwig selbst formuliert derweil das Schreib-Ideal für Steideles Roman: "Mit Bewunderung hat es mich stets erfüllt, wie jener begnadete Schriftsteller" - gemeint ist (kleiner anachronistischer Scherz!) Wolfgang Hildesheimer mit seiner fiktiven Biografie "Marbot"- "aus oft so spröder, todter Materie einen wahren, lebenglühenden Menschen gestaltet, wie er den kargen Stoff, ohne ihn in seinem historischen Bestand zu verletzen, durch selbstschaffende Kraft bereichert und poetisch verklärt. So muß man es machen!"

Hat Angela Steidele es selbst auch so gemacht? Dramaturgisch triftig zeigt sie im Wechsel der Briefstimmen, wie sich die Schlinge des religiösen, wissenschaftlichen und politischen Zugriffs um die Hälse von Rosenstengel und Ludwig zusammenzieht, durch "selbstschaffende Kraft" hat sie reale Handlungen und Lebensweisen ihrer Protagonisten ihren Erzählabsichten angepasst, und ein einigermaßen "lebenglühender Mensch" ist dabei in Gestalt der witzig-realistischen Kaiserin Elisabeth auch herausgekommen.

Und doch möchte man irgendwann rufen: Wir haben verstanden! Der Mensch an sich ist ein ziemlich fieses Tier (außer Sisi)! Vorsicht vor Wissenschaftlern! Politiker sind Schweine (außer Bismarck)! Kirchenleuten ist nicht zu trauen! Denn alle zusammen jagen, verfolgen und entrechten die Homosexuellen, ganz gleich, ob Mann oder Frau, egal, in welchem Jahrhundert! - Es ist nicht nur die Überfülle an Text und Material, es ist ein sich allmählich steigernder agitatorischer Impetus, der diesem Roman die Lebenskraft nimmt.

© SZ vom 03.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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