Deutsche Gegenwart:Auf der Reise zum Ich

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Der Zauberberg liegt in der Wetterau: Andreas Maier setzt die Vermessung der Kindheitslandschaft fort. "Der Ort" heißt sein neuer Roman.

Von Jörg Magenau

Da sitzt er immer noch, der Erzähler Andreas Maier, sitzt im Zimmer seines Onkels, das er bezogen hat, um von dort aus die Welt oder zumindest die hessische Wetterau zu vermessen und ein Werk zu schaffen, an dem er weiterschreiben will, "bis er tot" ist. Da können wir uns also auf etwas gefasst machen. Während er - nach den Romanen "Das Zimmer", "Das Haus", "Die Straße" - nun bei "Der Ort" angekommen und von den späten Sechzigerjahren in die frühen Achtziger vorangeschritten ist, häufen sich ja schon wieder neue Erinnerungen an, und der Erzähler im Zimmer des Onkels entfernt sich weiter von der Kindheit, die er erinnernd umkreist.

Die Tage verbringt er lesend am Schreibtisch und trinkt dabei Wein aus dem elterlichen Keller

In "Der Ort" geschieht das in zwei Stufen. Zunächst tritt der Siebzehnjährige auf, der sich nach der Trennung von der Buchhändlerstochter und einem nicht ausgeführten Selbstmordplan in eine schmerzensreiche Einsamkeitsexistenz hineindramatisiert. Die Tage verbringt er vorzugsweise lesend am Schreibtisch und trinkt dabei Wein aus dem elterlichen Keller. Er liest alles, was ihm in der Buchhandlung, die später einmal von der Buchhändlerstochter übernommen werden wird, in die Hände gerät, vor allem aber den "Zauberberg" von Thomas Mann. So verschärft sich die "wachsende Entfernung zu allem", die er spürt, ohne zu ahnen, dass er nie wieder aus ihr herausfinden wird.

Doch dieses bleibende Wintergefühl ist nur der Prolog zum eigentlichen, frühlingshaften Geschehen, das schon damals eine blumenhafte Erinnerung gewesen ist: Die erste Verliebtheit. Die Kapitel sind mit Zitaten aus Charlie Chaplins "Spring Song" überschrieben, und Chaplin lieferte auch das Motto des Romans, in dem er die Frage stellt, was es wohl ist, was eine Rose dazu bringt, Rose zu sein und als Rose zu wachsen, und was den Felsen dazu bringt, er selbst bleiben zu wollen. Denn das genau ist die Frage, die sich der Fünfzehnjährige zwar nicht stellt, die er aber erlebt mit allen Körperfasern.

Andreas Maier über der B 3 in der Wetterau. (Foto: Thomas Maier/dpa)

"Zum zweiten Mal im Leben gab es unser Leben zum ersten Mal", schreibt Maier, doch im Unterschied zum ersten Mal, als mit Familie, Haus, Garten und so weiter alles vorgegeben war, als wäre es ewig und immer und müsste genau so sein, erlebt er nun die Freiheit und das Moment der Wahl. Und all die Erinnerungsdetails - wer auf welcher Party wo stand, wie das Wetter war und was es zu essen gab - entsprechen in etwa den Gegenständen im Haus der Großmutter. Man möbliert sich das Leben zurecht und bewegt sich darin scheinbar als Herr im eigenen Haus. Als Kind - davon handelte "Das Haus" - musste er jeden Tag etwas sein, das er nicht war, verweigerte deshalb die Aufmerksamkeit und das Sprechen und wurde zum "Problemandreas". Jetzt ist er in einem Alter angekommen, in dem er erlebt, was es heißt, eine Wahl zu haben und sich als ein anderer zu entwerfen.

Andreas Maier ist sehr präzise in seinen Beobachtungen; er liefert exakte Choreografien der damaligen Feste, bei denen er und seine Freunde von Haus zu Haus zogen, je nachdem, wo gerade die Eltern weg waren. Wie man sich dann bewegt, wer mit wem spricht, welche Attraktionen und Anziehungskräfte wirken, das ist wie die Erkundung eines Sonnensystems mit fremden Planeten. Der Moment, in dem er ein Mädchen umarmt, führt dazu, dass der ganze Kosmos stehen bleibt. Millimetergenau nimmt Maier die darauf folgende Metamorphose unter die Lupe.

Der Raum der Erinnerungen weitet sich von Kapitel zu Kapitel, vom "Zimmer" zum "Ort" (und es sind einzelne Kapitel, die er in Buchform vorlegt), doch die Beobachtungsperspektive wird dabei immer enger, mikroskopischer. Und wenn er dann im allerletzten Band irgendwann einmal beim Universum (zumindest dem hessischen) angekommen sein wird, wird er zugleich das rätselhafte Ich in seine Elementarteilchen zerlegt haben.

Die Liebe als unbegriffenes Urerlebnis trennt ihn von der Welt ab. Die erste Umarmung ist ein Moment der Ruhe, aus dem ein rätselhafter Schmerz entsteht, eine Sehnsucht, die nicht zu stillen ist, es sei denn, durch eben das Objekt, das den Schmerz hervorgerufen hat. Askese und Ekstase überlagern sich, unüberwindbare Distanz vermischt sich mit der rauschhaften Sucht, sich alles einzuverleiben und zu eigen zu machen und die Geliebte nicht nur zu lieben, sondern zu "sein".

Vielleicht wird der Erzähler im allerletzten Band irgendwann im Universum angekommen sein

Mit diesem Paradox, diesem Riss durchs eigene Ich, gilt es nun weiterzuleben. Das führt zu einer Entfremdung zu Dingen und Menschen, alles wird plötzlich rätselhaft, selbst die eigene Unterhose. Merkwürdigerweise entzieht sich die Gegenwart, je genauer man sie betrachtet. Sie wird zu einer Kulisse, in der man sich wie ein verirrter Schauspieler bewegt.

Maier muss diese Vorgänge, aus denen metamorphosenhaft ein neues, erwachseneres Ich hervorgeht, sprachlich fassen, obwohl es damals keine Sprache dafür gab: "All das fand nicht in Worten statt" , heißt es. Sein Erinnern ist zugleich Analyse, also etwas ganz anderes als das, was damals geschah. So identifiziert er jetzt - und als Jetztpunkt ist im Text das Jahr 2009 im Zimmer des Onkels angegeben - als eigentliches Ziel der damaligen Verliebtheit nicht das scheu geliebte Mädchen und die kultische Verehrung, mit der er ihr begegnete (viel mehr als die erste Umarmung passiert auch gar nicht), sondern all die Veränderungen der eigenen Person, die sich daraus ergaben.

In konzentrischen Kreise geht Maier auf dieses Ziel zu und dabei nicht immer ganz genau mit der Zeit und ihrer Folge. Momente des Siebzehn- und des Fünfzehnjährigen sind wie ein Möbiusband ineinander verdreht, vielleicht deshalb, weil die Erinnerung nicht immer eindeutig ist und auch die zeitliche Folge nur eine Illusion. Auch das Alter des Erzählers scheint nicht ganz mit dem des Autors identisch zu sein, wenn er einst 1984 fünfzehn ist und damit etwas älter als der 1967 geborene Maier.

Doch in einem Buch, das auf subtile Weise von Identität und Nicht-Identität handelt und davon, wie man wurde, der man ist und zugleich ganz anders, ist diese kleine Differenz nur konsequent, schließlich verläuft jede Autobiografie in einer eigenen Spur, dicht oder weniger dicht am gelebten Leben entlang. Freuen wir uns auf Maiers "Stadt", "Kreis", "Gegend", oder wo auch immer er seine Selbsterkundung fortsetzen wird.

© SZ vom 23.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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