Der Briefwechsel:"Mein erster Gedanke heute morgen galt Ihnen"

Lesezeit: 4 min

Gut 20 Jahre lang schreiben Henri Matisse und Pierre Bonnard einander. Die Maler diskutieren oft mehr über persönliche Lebensthemen als über fachliche Dinge. Doch auch diese spielen eine Rolle.

Von Stephanie Schmidt

Als Henri Matisse im Jahr 1911 Pierre Bonnards Gemälde "Abend im Wohnzimmer" in der Pariser Galerie Bernheim-Jeune erwirbt, ahnt er noch nicht, wie vertraut sie in der Zukunft miteinander umgehen werden, ja, dass sie bis zum Ende ihres Lebens enge Freunde bleiben werden. Bonnard wiederum kauft 1912 bei derselben Galerie Matisses Gemälde "Das offene Fenster". Die insgesamt 40 Jahre währende Freundschaft zwischen dem im Jahr 1869 geborenen Matisse und dem zwei Jahre jüngeren Bonnard dokumentiert ihr Briefwechsel von 1925 bis 1946. Wann genau sie einander das erste Mal persönlich begegneten, ist allerdings nicht belegt.

"Mein lieber Bonnard", "Mein lieber Matisse" oder "Mein lieber Freund", so beginnen alle Briefe. Manche sind exakt datiert, andere ungenau oder gar nicht. Herzlich ist ihr Tonfall, geprägt von Bewunderung für das Werk des Kollegen, eine Korrespondenz auf Augenhöhe. Die Freundschaft zwischen Matisse und Pablo Picasso kennzeichnete auch Rivalität. Bei Matisse und Bonnard verhielt sich das anders. In keinem der insgesamt 62 Briefe spürt man Konkurrenzdenken. Die Korrespondenz macht transparent, in welch hohem Maß beide einander inspirierten. "Wenn ich an Sie denke, so denke ich an einen von aller überkommenen ästhetischen Konvention befreiten Geist; dies allein gestattet eine direkte Sicht auf die Natur, das größte Glück, das einem Maler widerfahren kann. Dank Ihnen habe ich ein wenig daran teilgenommen", schrieb Bonnard im Januar 1940 an Matisse - eine Antwort auf dessen Brief an Bonnard vom 8. Januar desselben Jahres. Darin beschäftigte sich Matisse mit dem Gemälde "Die sonnige Terrasse", an dem Bonnard von 1939 bis 1946 arbeitete: "Mit Vergnügen schreibe ich Ihnen, dass mein erster Gedanke heute morgen Ihnen galt. Ich habe Ihre Arbeit genau in Erinnerung behalten. Nie zuvor habe ich sie als so geschlossen empfunden, und die Dekoration mit der Fläche aus Rosensträuchern sehe ich noch ganz deutlich vor mir, sie gefällt mir sehr."

Man tauscht sich über gemeinsame Sujets wie Akt, Porträt, Interieur, Stillleben und Landschaft aus, respektiert aber, dass der andere dabei seinen eigenen Schwerpunkt setzt. So kapriziert sich Matisse, inspiriert von seinen Reisen nach Marokko und Algerien, auf Odalisken; Bonnard widmet sich insbesondere Frauen beim Bad. Als Bonnard, der gerade zu Gast in Matisses Atelier in Nizza ist, im Jahr 1929 als Odaliske für ein Foto posiert, dürften sich beide königlich amüsiert haben.

In einer Schaffenskrise sind die tröstenden Worte Bonnards Balsam für Matisses Seele

Die Korrespondenz beginnt am 13. August 1925 mit dem Ausruf "Es lebe die Malerei!", den Matisse auf einer Postkarte aus Amsterdam an den "Künstler-Maler" Pierre Bonnard sendet. In den ersten Jahren schreibt man sich in unregelmäßigen Abständen - die Maler haben vor dem Krieg noch ausreichend Gelegenheit, einander zu treffen. Um 1940 intensiviert sich die Korrespondenz der Künstler, die längst ihren Lebensmittelpunkt von Paris an die Französische Riviera verlegt haben. Beide weigern sich, ins Exil zu gehen. Bonnard zieht sich 1938 in seine "Villa du Bosquet" in Le Cannet oberhalb von Cannes zurück, Matisse bezieht im Hotel Régina in Nizza Quartier. Wenn man unter Isolation leidet und noch dazu unter einer Schaffenskrise, dann ist es Balsam für die Seele, aufmunternde Worte des Freundes zu lesen: "Völlig entmutigt" sei er gewesen, als ihn der Brief des Freundes erreicht habe, schreibt Matisse am 13. Januar 1940 an Bonnard. Diesem schildert er sein Problem: "Zeichnung und Malerei entfernen sich bei mir voneinander." Bislang seien seine Annäherungsversuche missglückt. "Dennoch danke ich Ihnen für Ihre Worte; sie haben mir außerordentlich gut getan, weil sie mich zwangen, mich wieder aufzurichten, um ihrer würdig zu werden", fährt Matisse fort. Ihr Briefwechsel erhellt auch Bonnards und Matisses künstlerische Ideale. Im Grundsatz ist man sich einig, und die Briefe dienen auch dem Zweck, einander zu bestätigen: In seinem Schreiben an Bonnard vom 28. Januar 1935 geht Matisse auf Distanz zur Kunsttheorie: "Die Wahrheit ist, dass ein Maler eben nur mit der Palette in der Hand existiert und dann tut, was er kann." Das "einzig solide Terrain des Malers" seien "Palette und Farben" pflichtet Bonnard ihm am 1. Februar 1935 bei, "mit einer Nase, triefend wie Kompott" und "einem Hals wie Grillfleisch" - er leidet gerade unter einer starken Erkältung.

Mehr noch als um den Dialog über Kunstauffassungen geht es indes darum, einander Trost zu spenden. Seien es nun die alltäglichen Sorgen, die der Krieg mit sich bringt, wie der Mangel an Heizmaterial, seien es die Erkrankungen der beiden älteren Herren. Gerne würde sie einander häufiger sehen, als es die Umstände erlauben. Matisse, der 1941 eine schwere Krebsoperation hinter sich gebracht hat, ermutigt Bonnard, seinen "reizenden Taubenschlag", wie er dessen Villa in Le Cannet nennt, zu verlassen und zu ihm nach Nizza zu kommen. Mit noch mehr Nachdruck lädt Matisse den Freund ein, nachdem dieser ihn über den Tod seiner Ehefrau und seines Modells Marthe informiert hat. Im Februar 1942 lässt er den Maler wissen, dass er sich bei ihm ausruhen und unbesorgt sein Hündchen mitbringen könne. Falls Bonnard sich mit dem Gedanken an einen Tapetenwechsel trage, schreibt Matisse, "so wissen Sie, dass ich glücklich sein werde, wenn Sie weniger weit fort sind".

In den letzten beiden Briefen kommt noch einmal die Anerkennung zum Ausdruck, die beide Maler einander zollen. "Ich lebe weiterhin mit Ihrem so geheimnisvollen und anziehenden Gemälde" teilt Matisse am 7. Mai 1946 dem Freund mit, wobei er sich auf den Erwerb von Bonnards "Obstkorb" bezieht. Bonnard stirbt im Januar 1947. Im Mai 1946 schreibt er Matisse, der ihn um sieben Jahre überleben wird, ein letztes Mal. Mit überschwänglichen Worten lobt Bonnard darin die Gemälde "Asien" und "Dame in Weiß", eine Leihgabe von Matisse: "Ihre 2 Bilder zieren (das ist das Wort) mein Esszimmer, vor ockerfarbenem Hintergrund, was ihnen gut steht. Vor allem der Frau mit dem Halsband, deren Rot abends herrlich ist. Tagsüber spielt Blau die Hauptrolle. Welch ein intensives und vielfältiges Leben die Farben in diesem Licht doch führen! Mir fällt jeden Tag etwas auf, und ich danke Ihnen für diese Freude und Belehrung."

© SZ vom 13.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: