Debatte:Sieg der Verwaltung

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Das Problem bei Tim Renners Volksbühnen-Coup liegt weniger im Ergebnis als darin, wie die Entscheidung getroffen wurde.

Von Jens Bisky

Die Berliner waren in ihrem Unernst schon eifrig dabei, Chefposten ausfindig zu machen, die Chris Dercon gleich mit übernehmen könnte, wenn er nun schon einmal kommt. Die Leitung des Hamburger Bahnhofs, des Stadtmuseums oder der Philharmoniker, vielleicht mit einem dirigierenden Staatssekretär an der Seite? Vorerst wird der belgische Kurator, der derzeit die Tate Gallery of Modern Art in London leitet, sich mit der Nachfolge Frank Castorfs begnügen müssen. Der Regierende Bürgermeister und Kultursenator Michael Müller sagte am Donnerstag im Abgeordnetenhaus, dass er sich auf Dercon freue, der ab 2017 gemeinsam mit anderen die Volksbühne weiterentwickeln werde. An diesem Freitag werden Dercon und seine Pläne in einer Pressekonferenz vorgestellt.

Herumgesprochen hat sich, dass Dercon und die Seinen nicht allein das ehrwürdige Haus am Rosa-Luxemburg-Platz bespielen sollen, sondern auch einen Hangar des 2008 geschlossenen Flughafens Tempelhof. Dafür muss und wird es mehr Geld geben. Das Gerücht, der Volksbühnen-Etat werde um 5 Millionen auf 22 Millionen Euro erhöht, mochte die Kulturverwaltung nicht bestätigen. Noch ist der Haushalt nicht beschlossen. Unklar ist auch, ob die Mehrausgaben für die Volksbühne durch eine Erhöhung des Kulturetats oder durch Umverteilung innerhalb desselben, also durch Kürzungen für andere, aufgebracht werden.

Das Schauspiel, an Sprache gebunden, wird nur noch eines unter mehreren Angeboten sein, neben Tanz, Film, Diskurs und einer "Webbühne", digital, auf die man gespannt sein darf. Dank einer Gruppe von Künstlern werden die verschiedensten Künste zu ihrem Recht und ihrem Auftritt kommen. Der Choreograf Boris Charmatz wird ebenso zum Dercon-Team gehören wie der Filmemacher Romuald Karmarkar und die Regisseurin Susanne Kennedy. Mit ihrer Inszenierung an den Münchner Kammerspielen "Warum läuft Herr R. Amok?" ist sie in diesem Jahr zum Theatertreffen eingeladen. Alles nobel, das wird ein interessantes Kombinat der Künste, und doch überwiegt der Ärger über die Entscheidung des Kulturstaatssekretärs Tim Renner.

Man kann über die Berufung Dercons lange streiten. Einen Nachfolger für Frank Castorf zu finden, der den anarchischen Energien der Stadt eine Form gab und damit den Stil der Berliner Republik prägte, ist gewiss nicht einfach. Nicht jeder wird im Schatten von Legenden produktiv. Auch besitzt Berlin mit dem Deutschen Theater und der Schaubühne zwei wunderbare, funktionierende Stadttheater. Und wen, bitte, überrascht man noch mit Diskurs, Film, Tanz? Das gehörte selbstverständlich auch zum Programm der Volksbühne.

Der viel beschriene Gegensatz Eventschuppen oder Ensembletheater trifft bestenfalls einen Teil des Problems. Das Problem liegt darin, wie diese Entscheidung getroffen wurde, als Verwaltungscoup nämlich. Zu verzeichnen sind dramatische Rückschritte in der Kulturpolitik. Als es der Stadt auf befreiende Weise dreckig ging und sie sich neu erfinden musste, 1991 schrieb der unvergessene Ivan Nagel seine Überlegungen zur Situation der Berliner Theater nieder, gestandene Kritiker und Kenner kommentierten. Es gab klar formulierte Vorstellungen und Debatten. Und diesmal? Der Name Dercon, garniert mit ein paar Floskeln, ersetzte das Programm. Tim Renner hat selbstherrlich entschieden, als wolle er das Publikum überraschen, Hauptsache was Neues. Der Protest der Theaterleute, so unterschiedlicher Temperamente wie Claus Peymann (Berliner Ensemble), Joachim Lux (Thalia Theater Hamburg), Ulrich Khuon (Deutsches Theater Berlin), Martin Kusej (Residenztheater München) oder Jürgen Flimm (Staatsoper Berlin) wurde noch nicht einmal einer angemessenen Antwort gewürdigt.

In seiner Beflissenheit, was ganz Großes zustande zu bringen, hat Tim Renner nicht nur einen Großteil der Theaterleute gegen sich aufgebracht, sondern auch die Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Da der Bund einen großen Teil der Kultur in der Hauptstadt finanziert, wäre eine Absprache politisch klug. Es gab sie nicht.

Eigentlich gibt es in Berlin genug kulturpolitische Baustellen, nun kommt eine neue hinzu

Die Freie Szene in Berlin ringt seit Jahren um zehntausend Euro hier, 40 000 Euro da; kleine Summen, verglichen mit dem, was Renner nun für eine neue Volksbühne ausgeben will, die den vom Bund finanzierten Berliner Festspielen Konkurrenz machen wird. Braucht die Stadt wirklich noch eine Spielstätte? Sobald die Staatsopernsanierung abgeschlossen ist, wird das technisch bestens ausgerüstete Schiller-Theater wieder leer stehen. Eigentlich gibt es genug kulturpolitische Baustellen, nun kommt eine neue hinzu.

Aber Tim Renner, soweit seine Motive überhaupt zu verstehen sind, hat in seinen Überlegungen wohl kaum an die Stadt, an die Akteure hier, an deren Bedürfnisse gedacht. Wäre es anders, hätte er für seine Ideen geworben, Verbündete gesucht. Bislang verspricht der Volksbühnen-Coup bloß die streberhafte Re-Inszenierung einiger Berlin-Legenden: Zwischennutzungsatmosphäre im Hangar, ein Zusammenspiel der Künste, wie es etwa im Techno-Club Berghain längst betrieben wird, Internationalität, mehr vom Vorhandenen, nur größer, mit einer Extra-Portion Glamour.

"Rotziger, radikaler, heckenschützenartiger" werde sein Theater mit der Realität umgehen, versprach Castorf 1991 und hielt Wort. Heckenschützenartig wurde nun über seine Nachfolge entschieden. Diese Art der Kulturpolitik gleicht Stadtmarketing: Sie unterbreitet den Bürgern wie ihren Gästen touristische Angebote. Sie lebt von symbolischem Kapital, das in den Neunzigern erworben wurde - Innovation in verschlissenen Kostümen.

© SZ vom 24.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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