Debatte:Die Grant-Nation

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Frankreichs Intellektuelle überbieten einander gerade in ihren Untergangsszenarien. Überall wähnt man "Unterwerfung", "unglückliche Identität" und "Deklinismus". Draußen auf dem Land wächst unterdessen der Hass auf "die Elite".

Von JOSEPH HANIMANN

Wochenlang fieberte halb Paris diesem Abend entgegen. Was würde Michel Onfray sagen? Lange galt er als links-hedonistischer Intellektueller. Da er aber aufgrund seiner brisanten Thesen zu brisanten Begriffen - "nationale Identitätsangst", "sozialer Klassengeist", Ausländerpolitik und das angeblich damit zusammenhängende einheimische Elend - des Abdriftens nach ganz rechts beschuldigt wurde ( SZ vom 22. September), mietete das Wochenmagazin Marianne den riesigen Saal der "Mutualité" im Pariser Quartier Latin für einen Diskussionsabend. Onfray erschien dann jedoch gar nicht. Er diskutiere nicht mit Leuten, die ihn als Neo-Reaktionär hinstellten, erklärte er. So debattierten ein Dutzend weniger bekannter Persönlichkeiten ohne ihn darüber, ob man in Frankreich überhaupt noch debattieren könne. Der Art nach zu schließen, wie bei den Reizwörtern Islam, Antikapitalismus, Volk, Nation, Republik von ein und denselben Leuten applaudiert wurde, sind die ideologischen Positionsunterscheidungen schon sehr relativ geworden.

Frankreich hat ja längst eine Debatte, die es sowohl an Breitenwirkung als auch an polemischer Heftigkeit mit der Debatte um Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" aufnehmen kann. Alain Finkielkrauts Erfolgsbuch "L'identité malheureuse" (Unglückliche Identität), Éric Zemmours Bestseller "Le Suicide français", Michel Houellebecqs literarische Fiktion "Unterwerfung" von einem islamisch regierten Frankreich sind Beispiele für zwar intellektuell ambitionierte Bücher, die aber teilweise in ziemlicher Nähe zu populistischen Positionen des Front National zu verorten sind. Alles breche zusammen, die einst stolze Nation sei nur noch ein Schatten ihrer selbst, lautet das Fazit, das unter dem Wort "Deklinismus" zusammengefasst und in den unterschiedlichsten Tonlagen durchgespielt wird.

Mit Frankreich könne man nur noch Mitleid haben, klagt Finkielkraut, denn es sei, "als nähme ein fortan postnationales, postliterarisches, postkulturelles Land von sich selber Abschied". Régis Debray konstatiert, das Kulturland Frankreich werde vom Wechsel aus der lesefreudigen "Graphosphäre" in die bildersüchtige "Videosphäre" besonders hart getroffen. Die Gesellschaft sei mittlerweile derart geschichtsvergessen, das intellektuelle Niveau der öffentlichen Debatten so verheerend, dass er selber fortan kein Intellektueller mehr sein wolle.

Michel Onfray wiederum zieht seine Kulturkritik genau andersherum auf. Die linke Führungselite habe mit ihrem Kampf für Homo-Ehe, Gender-Studies und Kulturendurchmischung das Volk der "old school", das heißt die einfachen Leute in den entlegeneren Winkeln der Republik, ganz aus den Augen verloren, argumentiert der Philosoph, der seit über zehn Jahren in Caen eine landesweit berühmt gewordene Volkshochschule betreibt. Er scheut sich auch nicht, die Zelebration des Flüchtlingselends in den Medien als Rührstück zu kritisieren.

Was aber, wenn diese intellektuellen Auguren des kollektiven Abstiegs gerade dem Populismus des Front National in die Hände spielen würden? So lautet die Frage, die im Land eine hitzige Debatte entfacht hat. Mitdiskutiert wird dabei auch jene andere Frage, wo heute die wahren Denker stünden: bei den unerschrockenen Tabubrechern und Mahnern, die im Namen der Wahrheit auch die Nähe zu den Thesen des Front National nicht fürchten, oder bei den neu-alten Konservativen der intellektuellen Anständigkeit, die an den Prinzipien von Toleranz, offenen Grenzen und kulturellem Pluralismus festhalten wollen. Anders gefragt: Wer ist heute der Mutigste im ganzen Land?

Ist die Position eines weltoffenen Zukunftsvertrauens in Frankreich mittlerweile völlig verwaist?

Ein Blick von außen kann da weiterhelfen, zum Beispiel ein Blick von jenseits des Ärmelkanals. Charakteristisch für die Debatte sei, schreibt der britische Geisteshistoriker Sudhir Hazareesingh in seinem Buch "How the French Think - An Affectionate Portrait of an Intellectual People", dass mit der These eines nationalen Abstiegs in Frankreich immer auch eine mehr oder weniger virulente Kritik der Moderne einhergehe. Sei diese aber in der Vergangenheit von Maurice Barrès bis Drieu La Rochelle stets vom rechtskonservativen oder reaktionären Lager gegen die damals fortschrittlichen Verfechter der Republik vorgebracht worden, werde sie heute umgekehrt gerade im Namen der angeblich bedrohten Republik aufgestellt mit der Forderung: zurück hinter die sicheren Grenzen der Vergangenheit. Und im Lager gegenüber antworte heute keiner mehr, stellt der Brite verwundert fest: Die Position eines weltoffenen Zukunftsvertrauens sei in Frankreich verwaist.

Keineswegs, entgegnet der Historiker und Philosoph Marcel Gauchet, zugleich Chefredakteur der von Pierre Nora gegründeten Zeitschrift Le Débat. Vielmehr habe der in Frankreich seit Jahrzehnten verstummte nationale intellektuelle Rechtskonservatismus bei Leuten wie Finkielkraut wieder eine Stimme gefunden. Damit findet nach Ansicht Gauchets Frankreich zur Normalität der demokratischen Meinungskonfrontation zwischen konservativen und fortschrittlich liberalen Positionen zurück.

Im Land der republikanischen Eliten-Kultur gilt das Wort "Elite" mittlerweile als Schimpfwort

Mag sein, mit einem Vorbehalt allerdings. Zwischen der Führungselite des linken wie des rechten Lagers und dem Volk, das heißt in Frankreich zwischen Paris plus einigen Regionalmetropolen und den entlegeneren Teilen des Landes, ist eine tiefe Vertrauenskrise entstanden. Im Land der republikanischen Elitenkultur ist das Wort "Elite" fast ein Schimpfwort geworden. Mit dem klassischen Unterscheidungsschema zwischen weltoffen-dynamischer Ober- und zurückgeblieben-politikverdrossener Unterschicht allein ist das nicht mehr zu erklären. Auf den Quartiersmärkten und in den Bistrots quer durchs Land wird geplaudert, gezecht, gespottet, gelacht wie eh und je, doch fühlt man sich dabei fortan unter sich. Mit den "anderen" will man nichts mehr zu tun haben. "Nähe" ist ein Lieblingswort geworden. Genauso wie das Wort "Grenzen", diese "sehr notwendige Absurdität", wie Régis Debray in seinem "Lob der Grenzen" schreibt, die zum netten Weltbild von Google Earth eine Fratze schneidet und rund um die Erde Blut fließen lässt. Die Argumente dafür holt man sich wechselweise bei Intellektuellen, Polemikern und Humoristen, die auch in Frankreich die Meinungsführerschaft übernehmen. Das "intellektuellenfreundlichste aller Völker", wie der Engländer Hazareesingh es bewundernd nennt, entdeckt den Groll als neue Radikalität des Denkens und den Spott als Nestwärme für Gleichgesinnte.

© SZ vom 22.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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