Debatte:Der Weltgeist hat das Kommando

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Berlin bereitet sich auf ein debattenreiches Wochenende vor. Eine These dabei lautet: 1968 war der letzte große Aufbruch. Wirklich? Hat es das Jahr 1989 also gar nicht gegeben?

Von Jens Bisky

Das Berliner Wochenende wird politisch munter. Die AfD demonstriert, eine Parade unter dem Slogan "Stoppt den Hass" stellt sich ihr entgegen und eine große sozialphilosophische Tagung behandelt Stichworte kritischer Theorie: von Mündigkeit bis Hoffnung, Geschlecht bis Kreativität, von Macht bis Revolution ( criticaltheoryinberlin.de/emanzipation). Die Organisatoren haben berühmte Köpfe eingeladen, Seyla Benhabib, Wendy Brown, Chantal Mouffe, auch Didier Eribon und Hartmut Rosa. Und so dürfte Kluges gesagt werden auf der Emanzipations-Tagung, die an diesem Freitag im Haus der Kulturen der Welt beginnt. Sie will Debatten bündeln, Grundsätzliches und Praktisches bedenken. Bestimmt dient das der Wahrheitsfindung.

Neben den üblichen Absichtserklärungen enthält die Ankündigung eine starke These zur jüngeren Vergangenheit: "Dass sich der Mai 1968, der letzte große Aufbruch emanzipatorischer Praxis und Theorie, dieses Jahr zum fünfzigsten Mal jährt, ebenso wie die Tatsache, dass Begriff und Sache der Emanzipation heute massiv unter Druck stehen, ist dabei Anlass wie Leitmotiv der Tagung."

Der Berliner schluckt und wundert sich; so lange liegt "der letzte große Aufbruch" dann doch nicht zurück. Oder hat es 1989 nie gegeben? Man könnte nicht durchs Brandenburger Tor zu den Tagungsorten am Ufer der Spree und an der Straße des 17. Juni radeln, wäre damals nicht eine Reihe von Umstürzen und Revolutionen gelungen, wäre den osteuropäischen Staaten nicht der Austritt aus der kriegsbedingten Unmündigkeit geglückt. Die Jetztzeit begann mit den Selbstbefreiungen des Jahres 1989. Womit Europäer heute sich herumschlagen, hat unmittelbar mit dem überwiegend heiteren Ende des Kalten Krieges zu tun. Wohin dieser Aufbruch ins Ungewisse geführt hat, ist bislang weder praktisch noch theoretisch entschieden. Man kann gespannt sein, ob auf der Tagung darüber gesprochen wird. Ankündigung und Literaturliste lassen dieses Thema im Schatten von '68 und den Selbstverständigungsdebatten Kritischer Theorie.

Wer 1820 eine Gegenwartsdeutung versucht hätte, ohne von Robespierre und Napoleon zu reden, wäre verspottet worden. Der witzigste Berliner Schwabe, Hegel, bemerkte über das Geschäft der Nostalgie: "Ich halte mich daran, dass der Weltgeist das Kommandowort zu avancieren gegeben. Solchem Kommando wird pariert". Gegen den Druck, den der Tagungsaufriss beklagt, helfen Traditionskabinette jedenfalls wenig, darin wird Emanzipation stillgestellt.

© SZ vom 25.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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