Chinesische Literatur:Codes sind ein Fluch

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Der Roman Mai Jias kommt wie ein Spionage-Thriller über die Mao-Ära daher. Aber er ist im Kern eine Studie über innere Abgründe.

Von Ulrich Baron

Im China der Mao-Ära hat sich der Mathematiker Ron Jinzhen vom "Idiotengenie" seiner Familie zum Volkshelden entwickelt. Quasi im Alleingang hat er in der "Abteilung 701" den feindlichen Code "Purpur" entschlüsselt und schien auf dem besten Weg, auch dessen Nachfolger "Schwarz" zu dechiffrieren, als ihn ein tragisches Missgeschick psychisch und physisch zugrunde richtet.

Der 1964 als Jiang Benhu geborene Mai Jia hat vor seiner Karriere als Bestsellerautor rund anderthalb Jahrzehnte in der chinesischen Armee gedient. Er kennt das Milieu, in dem er seinen Helden avancieren lässt. Zudem greift sein zwischen 1991 und 2002 entstandener Roman westlich geprägte Stoffe der modernen chinesischen Literatur auf. Einer der Ahnen Rongs ist als Spross einer alten Salzhändlerfamilie 1873 nach England gereist, um im Auftrag seiner Großmutter Traumdeutung zu studieren, wandte sich aber nach deren Tod der Mathematik zu und begründete so eine neue, akademische Familientradition. Zum Interesse an westlicher Wissenschaft und Psychologie gesellt sich dann das Vorbild sowjetischer Antispionage-Romane, die Anfang der 1950er Jahre aus der damals noch vorbildhaften UdSSR kamen.

Was wie ein Familienroman beginnt und als Thriller zu betulich wirkt, löst sich in ein vielsträngiges Geflecht aus Erzählerrede, Interview-Zitaten, Briefen und Tagebuchnotizen des Protagonisten auf, die den Zerfall einer autistisch verkapselten Persönlichkeit beschreiben. So viel von Kryptographie und Spionage die Rede ist, so schnell wechselt der Erzähler dabei vom Konkreten ins Metaphorische: "Codes sind ein Fluch", wird Rong von seinem Lehrer gewarnt. Rongs Vorgesetzter mahnt gar: "Ein und dieselbe Person kann nur einen einzigen Code entwickeln oder entschlüsseln. Denn wer einen Code gebrochen oder geschaffen hat, dessen Psyche wird von seiner Vergangenheit aufgesogen." Mit Mathematik haben solche Mystifikationen nichts zu tun. Und man wartet am Ende vergeblich darauf, was die Chinesen und ihre Gegner geheim halten oder um jeden Preis aufdecken wollen.

Als Wissenschafts- oder Spionageroman hätte dieses Buch also sein Thema verfehlt, doch geht es darin nicht auf. Rongs Meisterstück nämlich, die Entschlüsselung von "Purpur", wirkt weit undramatischer als sein Zusammenbruch. Den hat der Diebstahl seines Notizbuches ausgelöst, das vordergründig wenig mit seiner Arbeit zu tun zu haben schien: "Rong Jinzhen vernahm ständig mysteriöse Stimmen, die ihm etwas zuflüsterten. Sie kamen uneingeladen, in seinen Träumen, in den Träumen innerhalb seiner Träume, tauchten hinter den Worten der Bücher auf, die er gerade las, kryptische Botschaften in immer neuen Formen und von mysteriöser Natur." Herr Rong, so zeigt sich, hat schon im Kindesalter die Schwelle zum Pathologischen überschritten.

Mai Jias Held ist ein idiot savant und passt nicht unter die Menschen. Lebenstage und Ameisen hat er gezählt und ohne Anleitung den Übergang von der Addition zur Multiplikation entdeckt, um am Ende dem Fluch seines Talents zu erliegen. Die Welt, sein Leben erscheint ihm als Rätsel voller Rätsel, deren Entschlüsselung neue Rätsel schafft. Nun hat die Ironie des Schicksals, also die seines Autors, verfügt, dass man ihn in der Einheit 701 mit Menschen zusammengesperrt hat, die diesen Wahn aus professionellen Gründen teilen und ihn nach der Entschlüsselung von "Purpur" gleich vor die nächste Aufgabe stellen.

"Wer sagt, dass die Gesetze Gottes gerecht sind?"

Vielleicht hätte er auch die gemeistert, aber eben da wird ihm jenes Notizbuch gestohlen. Rong zerbricht an der Vorstellung, dieses Buch, der "Hort seiner Seele", sei nicht nur entwendet, sondern weggeworfen worden und einem Wolkenbruch zum Opfer gefallen, der alle seine Aufzeichnungen "in einen fetten Tintenfleck" verwandelt. Alle seine Versuche die Welt zu enträtseln, jede Sinngebung, droht so in eine tintenschwarze Ursuppe zurückzusinken und ihn mit sich zu ziehen.

Dieser kryptologische Sisyphos war kein glücklicher Mensch: "Wie ein Haufen Kleider" erscheint er dem Erzähler nach seinem Zusammenbruch, "wie ein nasser Sack", wie "ein Stein, der vom Wasser klein gewaschen wurde". Seine Inselbegabung vermag die Welt nicht zu entschlüsseln, denn die ist nicht codiert, sondern unfassbar komplex, aber Rongs Talent passt auf fatale Weise zur ideologischen Paranoia Chinas. Während Rong mit dem dämonisierten Code "Purpur" ringt, ist einmal vom Gott des Christentums die Rede, doch bald kommen Zweifel auf: "Wer sagt, dass die Gesetze Gottes gerecht sind?" Der Teufel, so schreibt Rong später in sein Notizbuch, bekomme unentwegt Kinder, "weil er sie fressen will." Das ist eine einfache Weltformel, doch vermag sie vieles zu erklären.

Mai Jia: Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong. Aus dem Chinesischen von Karin Betz. DVA, München 2015. 352 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.

© SZ vom 19.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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