Catherine Millet:"Houellebecq ist ein bisschen verklemmt"

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Autorin Catherine Millet, bekannt für die schonungslose Chronik ihres Sexuallebens, spricht über Eifersucht und das Dasein als altes Ehepaar.

Maxi Leinkauf

Rue de Reuilly, eine Straße im populären 12. Pariser Arrondissement. Hier lebt Catherine Millet. Ihr Buch "Das sexuelle Leben der Catherine M." wurde ein weltweiter Bestseller. Nun erscheint ihr neues Werk: "Eifersucht". Sie wirkt klein und unauffällig. Ihr Refugium ist lichtdurchflutet. Da erscheint ihr Mann, ein grauhaariger Monsieur. Er sagt, das Geld sei ihm ausgegangen, ob sie ihm welches leihen könne. Sofort springt sie auf.

Catherine Millet mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Jacques Henric. (Foto: Foto: AP)

SZ: Madame Millet, ausgerechnet Sie, die sexuelle Nomadin, durchlitten eine tiefe Eifersuchtskrise.

Catherine Millet: Ich war selbst am meisten überrascht.

SZ: Wie konnte das geschehen?

Millet: Ich dachte immer, ich sei geschützt gegen solche Gefühle. Bis ich eines Tages zufällig ein Foto mit einer nackten schwangeren Frau auf dem Schreibtisch meines Mannes entdeckt habe. Das war ein Schock. Ich starrte immer wieder auf dieses Bild. Es löste tausend Phantasien in meinem Kopf aus.

SZ: Weil es das Bild einer Schwangeren war?

Millet: Ich war verwirrt, denn ich konnte nicht wissen, ob es sein Kind war, das diese junge Frau im Bauch trug. Wären es Briefe einer anderen gewesen, wäre es weniger dramatisch. Dieses Bild war eine Tortur. Ich fühlte mich kolonisiert, wie eine Marionette meiner Eifersucht.

SZ: Und dann?

Millet: Ich verlor die Kontrolle und fing an zu spionieren. Ich durchwühlte Jacques' Tagebücher, Notizhefte und Schränke. Ich suchte nach Beweisen seiner Untreue. Zwar hat es mich nicht wirklich überrascht, dass mein Mann fremdging. Ich sah ja diese Gesten, die er vor meinen Augen anderen Frauen entgegenbrachte. Spuren seiner Affären. Seine Freundinnen waren immer jünger als ich. Aber das war am nächsten Tag für mich vergessen. Ich bin nicht sentimental und quälte mich nie mit der Frage, ob er mich noch liebt. Weder Jacques noch ich stellten jemals unser Zusammenleben in Frage. Meine Eifersucht war rein sexueller Natur.

SZ: Heißt das nicht auch, jemanden besitzen wollen? Und sei es körperlich.

Millet: Ich stellte mir Jacques im Umgang mit anderen Frauen vor. Meine Phantasien nahmen immer mehr Raum ein. Ich rufe meist Bilder ab, in denen ich mich selber in einer bestimmten Situation befinde. Aber nun war da immer Jacques. Ich war nicht mehr Herrin meiner eigenen Sexualität.

SZ: Konnten Sie ihm davon erzählen?

Millet: Nein. Ich habe es versucht, aber mir fehlten die treffenden Worte. Womöglich habe ich mich geschämt und es mir verboten, ihn nach seinen Affären zu fragen. Einmal wagte ich es doch. Er hat geantwortet: Wie kannst ausgerechnet du mir diese Frage stellen? Da hatte er recht. Immerhin hatte ich es mit mehr als tausend Männern getrieben.

SZ: Auf der Toilette, auf Friedhöfen, im Wald oder in Swingerclubs. Jeder kann das in Ihrem Bestseller "Das sexuelle Leben der Catherine M." von 2001 nachlesen. Aber eigentlich wurden Sie katholisch erzogen.

Millet: Ja, eigentlich. Doch meine Eltern hatten sexuelle und wohl auch emotionale Beziehungen außerhalb der Ehe. Wenn mein Vater fort war, erschien der Freund meiner Mutter bei uns zu Hause. Sie versteckten sich nie. Meine Eltern stritten oft, es spielten sich Dramen ab, und sie blieben nur wegen uns Kindern zusammen. Ich sah, wie jemand anderes den privilegierten Platz an ihrer Seite einnahm. Mich hatten sie vergessen, ich fühlte mich ausgeschlossen. Womöglich schützte ich mich, indem ich ein seltsames Vergnügen aus dieser Außenseiterposition entwickelte. Das setzte sich später in meinen sexuellen Affären fort, es war lustvoll und gleichzeitig schmerzhaft. Ein bisschen masochistisch.

SZ: Eifersucht ist Stoff großer Literatur, wie bei Marquis de Sade, Proust oder Marguerite Duras. Offenbar macht das Leiden auch Sie kreativ, aber warum stellen Sie es dermaßen zur Schau?

Millet: Oh, ich bin eine begeisterte Proust-Leserin. Ein Freund erinnerte mich neulich an eine Szene in der "Suche nach der verlorenen Zeit". Swann hat darin ein Rendezvous mit der Kurtisane Odette, die er anbetet, weil sie einem Kunstwerk ähnelt. Er klingelt an ihrer Tür, aber sie antwortet nicht. Dann schleicht er ums Haus, sieht durch ein Fenster und entdeckt sie mit einem anderen Mann. Das Szenario hat mich an mein eigenes Spionieren erinnert.

SZ: Nur was soll daran neu sein?

Millet: Ich wollte in meinem Buch gewisse Mechanismen entschlüsseln, von denen ich selber noch nie etwas gelesen hatte. Ich entdeckte beispielsweise eine enge Verbindung zwischen Eifersucht und Voyeurismus. Schauen Sie sich Salvador Dalí an, diesen großen Voyeur. Er hatte nur wenige sexuelle Beziehungen und fand sein Vergnügen vor allem darin, anderen zuzuschauen. Er hat das in seinem Bild "Ein großer Masturbierer" symbolisiert. Ich habe mich lange mit Dalí beschäftigt, das hat mir geholfen, mein eigenes Verhalten besser zu verstehen. Auch ich bin eine Voyeurin, in meinen Phantasien.

Lesen Sie auf Seite 2, warum die absolute sexuelle Freiheit der 68er eine Illusion ist.

SZ: Für den Soziologen Georges Bataille war Erotik etwas Unsteuerbares. Sein Freigeist verschwendete sich und existierte am Rand der Gesellschaft. Das Individuum gegen die kollektive Norm. Hat Sex auch für Sie eine politische Dimension?

Millet ist Autorin der Bücher "Das sexuelle Leben der Catherine M." und "Eifersucht". (Foto: Foto: dpa)

Millet: Ich feierte im Mai '68 meinen zwanzigsten Geburtstag. Da war ich bereits finanziell unabhängig und lebte mit einem Mann in einer kleinen Wohnung in Saint-Germain-des-Prés. Schon damals beschränkte ich mich nicht nur auf einen Partner. Wir waren alle aufgewühlt und spontan. Wir trafen uns abends mit Freunden, irgendwann trieb es jeder mit jedem.

SZ: Klingt aufregend. Aber hat das die Gesellschaft verändert?

Millet: Der Erfolg meines Buches "Das sexuelle Leben der Catherine M." ist ein Effekt des Mai '68. Ich wurde dafür nicht mehr angeklagt oder bestraft, wie früher Simone de Beauvoir.

SZ: Aber gerade sie hat doch erfahren müssen, dass die absolute sexuelle Freiheit ohne den Schmerz kaum lebbar ist. War die Idee eine Utopie?

Millet: Wir haben jahrelang gedacht, dass es möglich ist, wie Freigeister zu leben, ohne in einen emotionalen Konflikt zu geraten. Nun weiß ich, dass man sich von diesem Wunsch, jemanden besitzen zu wollen, sexuell oder emotional, kaum befreien kann. Jeder von uns hat Ängste vor der Einsamkeit, der Leere, dem Verlust, dem Tod. Der andere soll sie einem nehmen, das innere Loch stopfen. Natürlich ist Sex erfüllend, man schwebt im Paradies: einige Minuten, oder Monate, oder Jahre. Eine traumhafte schöne Sexualität schenkt uns flüchtige Illusionen. Aber man darf niemals von dem anderen erwarten, dass er einen glücklich macht.

SZ: Sex ist dauerpräsent in der Werbung, der Mode, in der Kunst oder im Netz. Wie hat sich der Umgang mit Sexualität bei uns verändert?

Millet: Als ich jung war, da war Sexualität etwas Spielerisches. Wir erlebten sie wie die Libertinage im 18. Jahrhundert, der damals vor allem Könige und ihre Maitressen frönten. Ihnen ging es mehr um den Zauber der Verführung, das Spiel mit Gefühlen und Träumen. Don Juan ließ die Frauen zumindest glauben, er würde sie heiraten, er begehre nur sie. Das war romantisch. 1968 ging man zwar miteinander ins Bett, ohne verliebt zu sein, aber auch das hatte etwas feierlich Subversives, es war die Befeiung von einer bürgerlichen Moral.

SZ: Und heute?

Millet: Mittlerweile bestimmen nicht mehr wir selber unser Bild von Sex. Man muss nur eine Frauenzeitschrift durchblättern. In einer Nummer stehen Umfragen über angebliche Traummänner und gleichzeitig über Sodomie. Hier die idyllische Hochzeit des Schauspielers mit einem Topmodel, auf der nächsten Seite ein Psychotest: Wie viele homosexuelle Erfahrungen hatten Sie schon?

SZ: Wie viele waren es bei Ihnen?

Millet: Natürlich hatte ich auch Sex mit Frauen, aber das war nicht mein Geschmack. In den Frauenmagazinen sieht man neben dem Pamphlet gegen Pädophilie erotische Fotos von einer 14-Jährigen. Sie vermitteln ein künstliches Bild von Sex. Die Frauen, die sich das anschauen, sind deprimiert, weil sie nie diese perfekten Körper haben werden. Als würde es in der Liebe genügen, attraktiv zu wirken.

SZ: Für den Schriftsteller Michel Houellebecq war Sex zu einer Ware verkommen, die leicht konsumieren kann, wer jung und schön ist. Sonst muss man sie kaufen.

Millet: Michel und ich saßen damals, Anfang des Jahrtausends, häufig auf gemeinsamen Podien. Wir repräsentieren zwei verschiedene Generationen. Ich sehe mich als die Stimme derer, die den Mai '68 erlebt haben: Wir spazierten mit Freunden und vor den Kindern nackt am Strand. Ihnen war das unangenehm, sie wollten ihre Eltern nicht ständig nackt sehen. So ging es auch Michel. Er ist ein bisschen verklemmt. Seine Bücher thematisieren die schlechten Seiten der sexuellen Befreiung: den Merkantilismus, die Enttäuschung über diese Programmierung auf das permanente Verlangen, die ständige Suche nach dem Höhepunkt. Da fehlt die Entwicklung, die Qualität der Beziehung. Man fühlt sich irgendwann ausgebrannt. Mittlerweile ist Michel weniger zynisch, sein letztes Buch ist eine romantische Liebesgeschichte.

SZ: Trotzdem, Titel wie "Fick mich", "Seelenhure", oder "Feuchtgebiete", in denen die Grenzen zum Pornographischen schwinden, schwemmen auf den Markt. Sind Sie die Vorreiterin der Trivialpornographie?

Millet: Die sexuelle Sprache ist vulgärer geworden und manche Dialoge in meinem ersten Buch sind obszön. Aber mittlerweile akzeptieren die Verleger, dass ihre Autoren eigene Erfahrungen schildern, mit denen die Literatur von heute genährt wird. Das tat schon Balzac, nur durfte er es nicht zugeben, sondern musste Figuren erfinden. Schriftsteller erzählen nun mal von den Dingen, die sie am besten kennen, von Milieus und Details. Das tue ich auch, aber ich versuche zu meinen Lesern Distanz zu halten. Sie sollen keine Teilnehmer des Geschehens werden.

Lesen Sie auf Seite 3 über Tabus, bürgerliche Doppelmoral und die Rätsel in einer Beziehung.

SZ: Diese Toleranz provoziert auch eine steigende konservative Gegenwehr. Je größer die Freiheiten werden, desto stärker auch die Repressionen?

Millet: Seit ein paar Jahren beobachte ich in Frankreich und in den USA soziale Vereine, Familienverbände, liberale und rechtsextreme Gruppen, die solche freizügigen Bücher, Ausstellungen oder Filme verhindern wollen. Sie fordern die Zensur. Kürzlich saß ich mit meinem Mann im Kino. Wir sahen den Film einer jungen Frau, die ich unbedingt verteidigen muss. Die Zensurkommission möchte ihn unter "X" klassifizieren, das heißt der Film gilt als pornographisch und wird nur in wenigen Sälen gezeigt. Damit tötet man den Film, denn es gibt nur ein oder zwei solche Säle in Paris und keinen in der Provinz. Dabei handelt es sich nur um eine Dokumentation über Sexualität, mit ein paar pornographischen Szenen.

SZ: Sexaffären sind bei den Franzosen auch Staatsaffären. Vor kurzem musste sich der Kulturminister Frédéric Mitterrand im Fernsehen dazu äußern, dass er Prostituierte in Thailand bezahlt hat.

Millet: Ich finde das scheinheilig. Einerseits akzeptiert man einen explizit homosexuellen Minister. Andererseits wirft man ihm sein sexuelles Verhalten vor. Immer diese Doppelmoral. Spannend daran ist, wer ihn attackiert hat.

SZ: Marine Le Pen, eine Rechtsradikale und ein paar Sozialisten.

Millet: Aber welche von ihnen? Es waren die Jüngsten. Die 60-Jährigen hätten ihn nicht angeklagt, denn sie haben sich ihre freie Moral bewahrt. Aber ihre Kinder, die heute Vierzigjährigen, musste ihre Prinzipien in Szene setzen. Natürlich war auch Demagogie dabei. Die Sozialisten attackierten die Regierung von Sarkozy, indem sie die weitverbreitete Ansicht der populären Klassen, Prostitution sei etwas Schmutziges, ausgebeutet haben.

SZ: Mitterrand hat es überstanden. Welche Tabus gibt es noch?

Millet: Man kann über alles reden. Aber es werden auch immer mehr Vorurteile geschürt. In unserer Gesellschaft gibt es diese Obsession für das Verbrechen der Pädophilie. Als könnte jeder ein Täter sein. Vor einer Weile hat mir ein Freund diese Szene geschildert: Da läuft ein kleines Mädchen nackt über den Strand und wirft sich dann in die Arme ihres Vaters. Ein vollkommen natürliches Verhalten. Doch ihr Vater wehrt sie ab. Nur damit die Leute um ihn herum nicht auf die Idee kommen, er könnte ein ambivalentes Verhältnis zu diesem Mädchen haben. Diese Panik führt dahin, dass manche nur auf Verdacht hin verhaftet werden und Jahre unschuldig im Gefängnis sitzen.

SZ: Ein schmaler Grat.

Millet: Strafe ist notwendig. Aber wer unschuldig ist, hat lebenslang einen Stempel weg.

SZ: Reden wir wieder von Ihnen. Hat sich die Eifersucht eigentlich auf Ihre sexuellen Gewohnheiten ausgewirkt?

Millet: Sie meinen, ob ich sie nach wie vor pflege? Das lasse ich mir nicht austreiben, auch wenn ich nun älter geworden bin und nicht mehr so verschwenderisch. Ich musste spüren, dass diese Exzesse mitunter von starken Gefühlen durchkreuzt werden. Aber ich könnte niemals auf andere Weise leben. Dieses sexuelle Vergnügen, das ich mit Unbekannten erlebt habe, von denen ich nichts kannte, nur eine Geste, einen Blick...Hin und wieder machte ich Liebe mit einem Freund, den ich respektierte. Auch mit meinem Mann verstehe ich mich sexuell wunderbar. In den vergangenen dreißig Jahren gab es natürlich auch Perioden, in denen wir uns langweilten. Also fand ich einen anderen Major, und er suchte sich andere Frauen.

SZ: Einen Major. Das klingt romantisch. Können Sie eigentlich nun, nach der Krise, mit Ihrem Mann über sich selber reden?

Millet: Jacques hat mein Buch gelesen. Ich hoffe er hat verstanden, was mit mir los war.

SZ: Sie hoffen es.

Millet: Ja, denn er hat nur die Form und den Stil kommentiert. Während des Schreibens und des Leidens habe ich begriffen, dass es zwischen zwei Menschen immer einen unbestimmten Raum geben wird, der für den anderen verschlossen bleibt. Das Schöne ist: Jacques und ich sind noch zusammen. Aber ich lebe mit dem Wissen, dass er mir manches nie erklären kann und ich ihm umgekehrt genauso wenig. Manche Seiten werden ein Rätsel bleiben.

SZ: Wie wunderbar, oder?

Millet: Ach, ich finde das trist. Man lebt so lange mit jemanden, fühlt sich geborgen, kennt ihn. Plötzlich kann alles zusammenbrechen. Jacques und ich haben das überstanden, wir sind uns noch näher, auch ohne Worte. Ich brauche diese Zweisamkeit mit ihm. Wenn ich nach Hause komme, sitzen wir in der Küche, trinken Wein, und ich erzähle von meinem Tag. Wir debattieren über Kunst und Politik, abends treffen wir Freunde. Wie ein stinknormales altes Ehepaar, dass älter wird.

Catherine Millet ist nicht nur Schriftstellerin, sondern vor allem eine renommierte Expertin für moderne Kunst. 1948 in dem Pariser Vorort Bois-Colombes geboren, wurde sie bald eine der schillerndsten Figuren der französischen Intellektuellenszene. Millet leitet das von ihr gegründete Pariser Kunstmagazin "Art Press" und gilt als Kennerin der Maler Salvador Dalí und Yves Klein. Ihr autobiographisches Werk "Das sexuelle Leben der Catherine M." vekaufte sich weltweit mehr als 1,2 Millionen Mal. Dass Hedonismus nicht vor Schmerz schützt, musste Catherine Millet erfahren, als sie auf eine Affäre ihres Mannes, des Schriftstellers Jacques Henric, stieß. Über ihre Krise berichtet die 61-Jährige nun so radikal offen wie über Sex. "Eifersucht" erscheint am 8.Februar im Hanser-Verlag.

© SZ vom 02.01.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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