Kein Vertrauen:Die Mauer in Brasília

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Wir Brasilianer sind Randfiguren in einem grotesken Roman. Spätere Generationen werden ihn vielleicht lustig finden. Wir nicht. Ein Essay des Autors und Kulturjournalisten João Paulo Cuenca.

Von João Paulo Cuenca

Unter den vielen Krisen, die wir in unserem Land durchleben, ist die wohl größte die der narrativen Ordnung. Was Literatur und Kino in ihren Fiktionen ausmalen, damit experimentiert das heutige Brasilien in der Realität. Wir erleben im Jahr 2016 einen Staatsstreich, verkleidet als konstitutionelles Ritual, angeführt vom Gesindel falscher Moralisten, Dummköpfe und Banditen, live übertragen und befeuert von parteiischen Fernsehsendern.

Diese "nationale Rekonstruktion" begann damit, dass 54 Millionen Wählerstimmen zugunsten von Dilma Rousseff für ungültig erklärt wurden. Dann wurde eine Amnestie für die Korrupten der "richtigen Seite" beschlossen, was größere ökonomische Schwierigkeiten nach sich ziehen wird. Und schließlich ist da noch eine Agenda, die zivile Rechte und soziale Programme beschneidet. Das klingt nach einer literarischen Dystopie. Ist es aber nicht.

Der 17. April, an dem die Abstimmung über das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff stattfand und unser monströser Kongress sich der Welt zeigte, war lediglich ein Tag, an dem Brasilien - wieder mal Brasilien war. Ein Tag, an dem das Volk das Ergebnis höfischer Verschwörungen betrachtete, "schockiert, fassungslos, überrascht, ohne zu erkennen, was das bedeutet" - genauso wie es Aristides Lobo schon im Jahr 1889 über die Deklaration der Republik geschrieben hatte.

In der Woche vor der Abstimmung, an eben dem Tag, als sich vor dem Palácio do Planalto, dem "Palast der Hochebene", dem Regierungssitz in Brasilia, ein Mann selbst anzündete, wurde auf der Esplanada dos Ministerios eine Mauer von zwei Meter Höhe errichtet. Auf ihrer östlichen Seite versammelten sich Tausende rot gekleidete Anhänger von Dilma Rousseff, auf der westlichen Seite die Befürworter der Amtsenthebung in Gelb. Das Foto ging um die Welt. Aber es handelt sich um eine falsche Opposition. Es ging nicht darum, für oder gegen die PT (die Arbeiterpartei, deren Vorsitzende Dilma Rousseff ist) zu sein. Es ging nicht darum, zu sagen "Weg mit Dilma" oder "Dilma muss bleiben".

Auf dem Spiel steht etwas viel Wichtigeres: der Präsidentenstuhl selbst, die Republik, die Demokratie in Brasilien. Wenn ein Mediennetzwerk den Journalismus gegen politisches Engagement eintauscht, wenn Richter Wahlpropaganda betreiben, dann scheint es als, existierten Recht und Wahrheit nicht mehr. Wir verwandeln uns in Karikaturen aus einem Schelmenroman, wir leben unter einem Füllhorn von Intrigen, fühlen uns wie Nachfahren von Voltaires Candide, die ihren Lehrer Pangloss in Fetzen nicht wiedererkennen.

Auf dem Weg von Voltaire über Dilma Rousseffs Wahlslogan "Mutiges Herz" des Jahres 2014 bis hin zur riesigen gelben Ente, dem Symbol, mit dem die Putschisten gegen Steuererhöhungen demonstriert haben, sind die rhetorischen Formen immer gröber geworden. Aber wir folgen ihnen mit dem gleichen Hang zum blinden, ignoranten Fanatismus. Aberglauben steht gegen Aberglauben, und wir verlieren mehr als nur unsere Objektivität. In seiner Abhandlung "Der Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman" schrieb Theodor W. Adorno: "Der Subjektivismus toleriert keine einzige Materie, ohne sie zu verwandeln." Im gegenwärtigen Kapitel des Romans "Brasilien" wurden die Grenzen zwischen Bericht und purem Schwindel verwischt. Das postmoderne Spiel mit der Entropie und dem "anything goes" ist in die Politik eingewandert, aber dahinter lauert unsere heimliche "reale" Angst: die Angst um unsere Währung, den Real.

In diesem Gebiet der verwischten Grenzen versuchen zahlreiche Erzähler die Leser zu manipulieren. Ein solcher grotesker Roman, wie wir ihn derzeit in der Realität Brasiliens erleben, wird vielleicht in einigen Jahrzehnten, aus der Distanz, eine unterhaltsame Lektüre sein, aber er ist dies keinesfalls für uns, seine Statisten.

Der unerschöpfliche Disput zwischen den Versionen dieses Romans lähmt uns. Wir trauen dem nicht, was wir lesen, wir hören nicht, wir sehen nicht - und vor allem vertrauen wir uns gegenseitig nicht mehr. Es gibt zerrüttete Familien, Freunde, die nicht mehr miteinander sprechen, sondern verächtlich ausspucken, wenn sie sich begegnen. Das Gerücht ist zur Regel, die Rhetorik zum Synonym für Täuschung geworden. Brasilien ist eine offene Wunde. Wir sind Brutus und Cassius, die Julius Cäsar abstechen, und zutiefst erschrocken erkennen wir erst beim Aufwachen, dass wir selber Julius Cäsar sind, der blutüberströmt auf den Stufen des Senats liegt - und erkennen uns selbst mit einem letzten Röcheln im Auge unserer Henker wieder.

Im Jahr 1990 hielt der argentinische Autor Ricardo Piglia eine Reihe von Vorlesungen über den zeitgenössischen Roman, über sein Verhältnis zum Leser, zur Politik - und zum Staat. Piglia zeigte, dass das Erzählen zu den Grundelementen jeder sozialen Ordnung gehört - wir alle verweben fortwährend Erzählungen, Erzählen ist eine soziale Notwendigkeit. Zu einer Gesellschaft gehört, was Piglia eine "öffentliche Erzählung" nennt. Und er stellt die These auf, dass der Staat immer dazu neigen wird, seinerseits Fiktionen zu erzeugen, um diese "öffentliche Erzählung" in den Griff zu bekommen.

Im Brasilien des Jahres 2016 sieht sich diese Staatsfiktion konfrontiert mit einer anderen, rivalisierenden, dramatisch entgegengesetzten öffentlichen Erzählung, in Umlauf gebracht von Agenten, die schon im nächsten Augenblick selbst der Staat "sein" wollen. Piglia zufolge "ist in einer Gesellschaft das wichtig, was noch gar nicht da ist, was nicht existiert, worüber man aber spricht - sei es, weil man auf keinen Fall will, dass es existiert, oder weil man es unbedingt will. Das ist der Ort der Utopie und zugleich die Methode des Terrors. So funktioniert auch der Terror."

Diese Spannung zwischen dem Diskurs des Möglichen und seinem Gegenüber, dem Faktischen und der Utopie, definiert den fiktiven Roman. Im heutigen Brasilien bestimmt diese Spannung sehr real auch den Diskurs, der Ängste vor der Zukunft nährt, die Drohung errichtet, er könnte wieder genauso geführt werden wie in der Vergangenheit - oder aber sehr verschieden davon. Das hängt allein davon ab, auf welcher Seite der Mauer du zu stehen glaubst.

Übersetzt von Michaela Metz.

© SZ vom 11.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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