Brasilianische Literatur:Ihr seid das Salz der Finanzwelt

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Joaquim Maria Machado de Assis: Das babylonische Wörterbuch. Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis. Mit einem Nachwort von Manfred Pfister. Manesse Verlag, München 2018. 254 Seiten, 20 Euro. (Foto: N/A)

Hier hält der Teufel eine Bergpredigt: Joaquim Maria Machado de Assis hat insegsamt 226 Geschichten geschrieben, nun ist eine Auswahl auf Deutsch erschienen.

Von Tobias Lehmkuhl

Es ist müßig, auf den Rang dieses Schriftstellers hinzuweisen. Ein ums andere Mal wurde Joaquim Maria Machado de Assis zum Klassiker ausgerufen, aber noch die emphatischsten Erklärungen haben es nicht vermocht, ihn ins allgemeine Bewusstsein zu heben. Wenig hilfreich war es, dass der Brasilianer mit schöner Regelmäßigkeit zum Begründer der lateinamerikanischen Literatur ausgerufen wurde, zu einer Sterngestalt, ohne die Jorge Luis Borges und Gabriel García Márquez nicht denkbar wären.

Tatsächlich hat Machado de Assis mit beiden wenig gemein, weder teilt er die erzählerische Askese des Argentiniers, noch die Opulenz des Kolumbianers. Er ist eine ganz und gar eigensinnige Randgestalt, tief verhaftet zudem im 19. Jahrhundert. Sein philosophischer Esprit ist an den Werken Flauberts und Maupassants geschult, sein leichthändiger Zugriff auf gesellschaftliche Grundkonflikte, sein Interesse daran, wie sich die Sitten verändern und die Milieus vermischen, an spanischen Erzählern wie Benito Pérez Galdós. Am ehesten aber lässt er sich mit einem anderen Sonderling der vorletzten Jahrhundertwende vergleichen, einem, der ebenfalls von Rand des europäischen Horizonts her schreibt (zu dem Machados Rio de Janeiro durchaus zählt), mit Italo Svevo aus Triest. Nun steckt in jedem Literaturkritiker auch ein Missionar. Wollte er das, was er selber schätzt, nicht unbedingt auch anderen nahebringen, hätte er den Beruf verfehlt.

Aber wie bei Svevo muss man sich bei Machado de Assis irgendwann bescheiden: Wenn die anderen ihn auch niemals mindestens jährlich lesen werden, man selbst wird es weiterhin tun. Dankenswerterweise gibt es ja hier und da in den Verlagen den einen oder anderen Exoten, der diese abseitige Vorliebe teilt und dafür sorgt, dass alle Jahre wieder eine Perle des geschätzten Autors übersetzt wird.

Zuletzt war das, im Falle Machado de Assis', vor neun Jahren das "Tagebuch des Abschieds" in der Friedenauer Presse, jetzt bringt der Manesse Verlag einen Band Erzählungen unter dem Titel "Das babylonische Wörterbuch" heraus, eine kleine, sehr abwechslungsreiche Auswahl aus den insgesamt 226 Geschichten des Autors. Es finden sich darin jene "contos fluminenses", die Geschichten aus der gehobenen Gesellschaft Rio de Janeiros also, in der auch Machados Romane angesiedelt sind, die melancholisch-ironischen Meisterwerke "Dom Casmurro" oder "Die nachträglichen Memoiren des Brás Cubas" etwa (längst sind noch nicht alle Romane übersetzt, und die übersetzten nicht unbedingt noch lieferbar). Dazu gehören zwei Dreiecksgeschichten, die beide so tödlich wie überraschend enden. Man merkt ihnen wie auch den anderen Erzählungen an, dass sie zuerst für Zeitschriften- und Zeitungsveröffentlichungen bestimmt waren, sie zielen auf den Leser, der gut unterhalten, intellektuell aber auch herausgefordert werden möchte.

Letzteres ist noch stärker der Fall in den philosophisch-theologischen Erzählungen. Die Leichtigkeit, mit der Machado die Geschichte von Adam und Eva neu erzählt oder von den Erfahrungen des Teufels berichtet, eine eigene Kirche zu gründen, verblüfft gleichwohl. Am Ende von "Das babylonische Wörterbuch" steht dann auch eine weitere Teufelsgeschichte, oder besser eine der Bergpredigt nachgebildete "Predigt" des gefallen Engels. In ihrer Aktualität ist sie derart überraschend, dass es einen glatt umhaut: "Ihr seid das Salz der Finanzwelt", predigt der Teufel da seinen Anhängern, "es ist nicht nötig, euren Bruder zu töten, damit euer sei das Erdenreich. Es genügt, ihm das letzte Hemd vom Leib zu reißen." Weiter empfiehlt der Teufel, die erbeuteten Hemden nicht in der Erde zu verstecken, stattdessen "leget eure Schätze lieber auf eine Bank in London, wo weder Rost noch Motten sie zerfressen."

Machado des Assis schrieb das, wohlgemerkt, 1893 und nicht 2018. Wie überhaupt gar nicht zu glauben ist, welch gedankliche wie sprachliche Frische von diesen Erzählungen auch nach mehr als hundert Jahren noch ausgeht. Nicht zuletzt der Übersetzerin Marianne Gareis ist zu verdanken, dass wir wenigen Eingeweihten uns damit vergnügen können.

© SZ vom 06.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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