Bilderbuch:Im Stollen

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Illustration aus Joanne Schwartz und Sydney Smith: Stadt am Meer. (Foto: Verlag)

Der Junge lebt als Sohn von Bergleuten an der kanadischen Küste. Und immer, bei allem was er tut oder erlebt, ist ihm bewusst, dass der Vater, wie auch schon der Großvater, tief unter dem Meer in der Erde nach Kohle gräbt.

Von Karin Gruss

"Wenn ich aufwache, dann ist das immer so - erst höre ich die Möwen, dann höre ich, wie ein Hund bellt, auf der Straße fährt ein Auto vorbei, jemand knallt hinter sich eine Tür zu und ruft laut: Guten Morgen." Der erste Blick des Jungen gilt in der Frühe dem Meer, der erste Gedanke dem Vater, der dann schon unter Tage nach Kohle gräbt. Der Bergmannssohn liebt die tägliche Begrüßung durch Möwen und Meer, das Klingeln beim Freund nebenan, den gemeinsamen Wettlauf zum alten Spielplatz, wo man auf der klapprigen Schaukel so hoch fliegt, dass im Bauch Schmetterlinge flattern. Kulisse einer unbekümmerten Kindheit: "Haus, Straße, Fels mit Gestrüpp, Meer." Dann die Stadt. An die idyllische Bucht geschmiegt, lebt sie weniger vom Meer als von dem, was die Erde aus ihrem Innern hergibt: wertvolle Kohle. Über Tage wird der Lebensrhythmus von der Beständigkeit des Meeres bestimmt; weit unter dem Meer sichern Kohleerträge das bescheidene Auskommen der Bergleute und ihrer Familien.

Hundert Jahre nach einer Bergwerkskatastrophe im kanadischen Cape Breton, bei der 65 Männer und Kinder zwischen 14 und 65 Jahren getötet und weitere 100 Bergleute verletzt wurden, setzt Joanne Schwartz jenem Leben in ihrer Heimat ein Denkmal, das geprägt ist durch ein solidarisches Miteinander und dem Wissen, dass wir nicht nur von, sondern mit der Natur leben können. Auch der Illustrator Sydney Smith ist ein Kind dieser vorgelagerten Inselgruppe an Kanadas Ostküste. Seine großartig angelegten Meeresbilder betrachtet er als Liebesbriefe an seine Heimat. Sie erzählen von grenzenloser Weite: kleine Schaumkronen am Morgen, glitzernde Wellen in der Mittagssonne, nahezu reglose Stille am Abend. Finster und ebenso großformatig der Blick auf die erdrückende Enge im Stollen. "Und tief drunten unter dem Meer gräbt mein Vater nach Kohle." Bewegte Kreidestriche auf tiefschwarzem Grund deuten eindrücklich die Gefahr böser Wetter unter Tage an.

Erwartungsvoll aufs Meer hinausschauen und den Vater tief unten im Bergwerk wissen, finden sich vereint in den Gefühlen des Jungen. Schon der Vater hat einmal so auf den Großvater gewartet, und auch der Enkel wird in ein paar Jahren am Abend erschöpft, aber glücklich sein Kind umarmen. Zugehörigkeit, Solidarität und Beständigkeit sind die Quellen der Liebe, von denen dieses Buch erzählt. (ab 5 Jahre)

Joanne Schwartz : Stadt am Meer. Mit Illustrationen von Sydney Smith. Aus dem Englischen von Bernadette Ott. Aladin Verlag, Hamburg 2018. 48 Seiten, 18 Euro.

© SZ vom 25.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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