Berliner Volksbühne:Hasskultur

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Am Sonntag startet die erste Spielzeit der neuen Volksbühne. Für manche ist das: eine Katastrophe. (Foto: Paul Zinken/dpa)

Die Hetze gegen Chris Dercon als Intendant der Berliner Volksbühne ist Mobbing. Über einen Abgrund an deutschen Theatern.

Von Till Briegleb

Wenn an diesem Sonntag die neue Berliner Volksbühne unter der Leitung von Chris Dercon ihre erste Spielzeit eröffnet, dann ist die größte Überraschung, dass es überhaupt so weit kommen konnte. Was der neue Intendant in den zwei Jahren seit seiner Berufung zum Nachfolger von Frank Castorf über sich in Zeitungen, Blogs und offenen Briefen lesen musste, war von solcher Feindseligkeit geprägt, dass weniger stoische Charaktere wohl resigniert hätten. Der belgische Kurator war mit der erklärten Absicht angetreten, den Geist der Volksbühne nach 25 Jahren Castorf-Intendanz mit neuen Mitteln fortzuführen. Dennoch klangen die Schmähungen gelegentlich wie ein Aufruf zum Tyrannenmord.

Vor allem die Dercon zugeschriebenen Attribute zeigen, wie sehr sich die Castorf-Unterstützer in einem biblischen Endkampf zwischen Gut und Böse sehen. Was auch immer in einer sich links fühlenden Szene zur Etablierung von Feindbildern taugt, wurde Dercon vorgeworfen: Er sei neoliberal, ein Gentrifizierer, ein Event-Manager, der einen globalen Kunstzirkel für Yuppies bediene, und das ist nur eine Auswahl.

Die Hochbegabten nehmen sich das Recht auf besondere Umgangsformen

Noch wenige Tage vor dem Programmstart wurde dem Berliner Kultursenator Klaus Lederer eine Petition mit rund 40 000 Unterschriften übergeben, die ihn in durchaus populistischer Manier dazu auffordert, geltende Verträge aufzulösen. Die Initiatorin begründet dies damit, dass Dercon die Volksbühne "abwickeln" wolle. Einige vormalige Mitarbeiter des Theaters sowie Unterstützer von außerhalb diskutierten lange sehr ernsthaft die Möglichkeit, das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz zu besetzen, um den Verbleib von Castorfs Mannschaft zu erzwingen.

Zweifellos ist es völlig legitim, die Konzeptideen Dercons zu kritisieren. Ein Theater als "Plattform" für alle Kunstarten, so wie es dem einstigen Direktor der Tate Modern und des Hauses der Kunst in München vorschwebt, entspricht dem kuratorischen Modetrend des "Verwischens". Manchmal werden dabei Wesensunterschiede zwischen Theater, Performance, Kunst, Film, Musik oder Literatur so lange ignoriert, bis nur noch reiner Dilettantismus übrig bleibt. Ebenso gibt es viele gute Gründe, den Ratschluss des früheren Kulturstaatssekretärs Tim Renner anzuzweifeln, ausgerechnet die Volksbühne für ein Programm zur Verfügung zu stellen, das im bisherigen Entwurf einem global vernetzten Dauerfestival gleicht.

Aber erschreckend an der Form der Auseinandersetzung ist, dass sich in vielen Bereichen der Gegenkampagne die Strukturen des klassischen Mobbings finden. Die Gegenspieler diffamieren das Opfer mit persönlich verletzenden Begriffen und Unterstellungen, legen Maßstäbe an, die sie für sich selbst niemals gelten lassen würden. Und alles, was der Betroffene zu seiner Rechtfertigung sagt, wird in seinen nächsten Fehler umgedeutet. Mit diesen Methoden sieht sich Chris Dercon seit seiner Ernennung konfrontiert. Das Hauptargument war vom ersten Tag an, er sei doch Kurator. Und "Kurator" ist in bestimmten Kreisen ein Schimpfwort wie "neoliberal".

Ist dieser Mangel an Fairness, Aufrichtigkeit und Empathie, dieser mal schwelende, mal offene Hass, wirklich deshalb hinnehmbarer, weil Frank Castorfs Vierteljahrhundert an der Volksbühne zu den bedeutendsten Epochen des deutschsprachigen Theaters gehört? Sind die Künstler und Zuschauer, die hier ihre intellektuelle Heimat gefunden hatten und zum Abschied zu Recht trauern, damit wirklich ihrer eigenen Maßstäbe enthoben, was den Umgang mit Andersmeinenden betrifft? Oder sind diese Auswüchse des Selbstgerechten vielleicht doch ein grundsätzlicher Teil des deutschen Theaterbetriebs, und er trat an der exzessiven Volksbühne nur besonders exzessiv zu Tage?

In München gab es vor 18 Jahren eine vergleichbare Situation. Sie erlebte nur deswegen nicht die Berliner Eskalationsstufen, weil der unter Protest seiner - diesmal bürgerlichen - Fans verabschiedete Kammerspiel-Intendant Dieter Dorn über die Straße ins Residenztheater ziehen durfte, sodass er sogar 28 Jahre lang Münchner Theaterintendant blieb. Die Struktur der Diffamierung seines Nachfolgers Frank Baumbauer glich aber ziemlich exakt den heutigen Vorgängen um die Berliner Volksbühne.

Wie Dercon in Berlin untersagten beleidigte Hausherren auch Frank Baumbauer in München lange, das Gebäude zu betreten, um erste Gespräche mit den Mitarbeitern zu führen. Gravierender aber war die verbale Herabsetzung des hoch erfolgreichen Intendanten als "Un-Künstler". Sie fand ihren beschämenden Tiefpunkt in einem Pamphlet von Peter Sloterdjik. Der Philosoph raunte den Untergang der Hochkultur herbei, die er im Vertragsende seines Freundes Dieter zu erkennen meinte, er bezeichnete Baumbauer unter anderem als Vertreter der "low culture", als "leistungsbereites Mittelmaß", als "Unbegabten" und "Zwischenträger" einer "Sekundärkultur", in der man sich "einen Namen macht, indem man Inhaber von Namen inszeniert", und - das gab es damals schon - als "Event-Manager".

Um die demokratieverachtende Manier zu verstehen, die im Theater eine viel größere Rolle spielt, als man gemeinhin vermutet, muss man die Sätze des "Kulturkampf"-Textes von Sloterdjik noch einmal lesen: "Daß das Niedere dem Hohen den Rang abläuft - das ist die Generaltendenz des Kunstbetriebs im 20. Jahrhundert, und dass die Niedrigbegabten ihre Gleichberechtigung mit den Hochbegabten erkämpfen, das ist das Gesetz der modernen ästhetischen Entropie. Das latente Thema in der Kultur des 20. Jahrhunderts ist der Vorrang der Demokratie vor der Begabung."

Damit lieferte er die Rechtfertigung für zahlreiche Äußerungen von Theatermenschen, die sich für besonders begabt halten und über der lauen Brühe aus Demokratie, Kompromiss und Veränderung schwebend. Claus Peymanns Äußerungen über Menschen, die er für unter seinem Niveau erachtet, sind Legion. Sich selbst beschrieb der Theatermacher als "laut, besserwisserisch, begabt und wahnsinnig fleißig", den einstigen Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner nannte er hingegen einen "Lebenszwerg", Oliver Reese, der ihm, Peymann, am Berliner Ensemble nachfolgt, einen "handzahmen Verwalter". Politiker sind für ihn "Nasenpopel".

Aber auch die Anwürfe des Regisseurs Peter Stein gegen junge Kollegen, die alle unkonzentrierte "Dummköpfe" seien und deswegen Schauspieler lieber mit "Scheiße beschmieren und an der Rampe wichsen lassen", sind ein Beispiel für die "Freiheit" der Begabten im Theater. Ihre Vernichtungsurteile erwachsen aus dem sicheren Gefühl, in dieser Monade vor demokratischer Kontrolle und zwischenmenschlicher Verpflichtung befreit zu sein. Obwohl seit der Hochzeit der Theatermachos Stein, Zadek und Peymann andere Umgangsformen im Theater Einzug gehalten haben, ist weder die schwer durchdringbare Trennung zwischen künstlerischer Leitung und Personal verschwunden noch die Tendenzen zu Machtmissbrauch, Opportunismus und Mobbing.

Als vor einigen Jahren Schauspieler des Hamburger Thalia Theaters aus dem Nähkästchen plauderten, was sie an der Hierarchie in ihrem Betrieb stört, wurden sie anschließend nicht nur von der Leitung des Hauses zur Brust genommen, sondern auch von ihren Kollegen beschimpft, sie hätten "mitten auf die Bühne gekackt". Als Folge dieses kleinen Eklats wurde später beim Berliner Theatertreffen über das Thema "Angst im Theater" diskutiert, nur fanden sich kaum Erfahrene aus der Praxis, die bereit gewesen wären, mitzureden. Erst in letzter Zeit haben Schauspieler wie Shenja Lacher mit dem Hinweis auf die "feudalistischen" Umgangsformen im Theater ihr Engagement gekündigt, und Initiativen wie "art but fair" mahnen einen grundsätzlichen Wandel der Machtverhältnisse an, erst jetzt öffnet sich eine Diskussion darüber, wie demokratiefrei die Bühnenkunst wirklich entsteht.

Es scheint also höchste Zeit zu sein für eine kritische Selbstbefragung des deutschen Theatersystems, ob hinter dem schönen Anschein der Kunstfreiheit und des Engagements für Flüchtlinge, Demokratie und Menschlichkeit nicht doch noch sehr hässliche Gepflogenheiten überdauern, die selbstgerecht, grenzverletzend und zutiefst undemokratisch sind. Die Castorf-Verteidiger treten auf, als würden für sie demokratische Argumente, Verträge und faire Umgangsformen nicht mehr gelten, weil sie ja im Schein eines Hochbegabten wirken. Dieses Auftreten lässt zumindest stark vermuten, dass Bigotterie auch an den besten Theatern der Republik noch selbstverständlich ist.

© SZ vom 09.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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