Berliner Rundfunkchor:Singen kann jeder

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Gijs Leenaars, neuer Chefdirigent des Berliner Rundfunkchors. (Foto: Peter Adamik)

Sogar der Bundestag, wenn er vom Berliner Rundfunkchor zum Adventsingen aufgefordert wird. Dieser Chor hat einen neuen Leiter: Gijs Leenaars. Er folgt auf Simon Halsey. Die Choristen sind jetzt schon begeistert.

"Singen im Parlament" am ersten Adventsonntag. Das ist tatsächlich ein parlamentarischer Termin, der ausgerichtet wird als Internationales Weihnachtsliedersingen mit dem Berliner Rundfunkchor und dem, auch ihn gibt es tatsächlich, "Chor der Musikgemeinschaft Deutscher Bundestag". Garantiert Unpolitisches steht auf dem Programm im Berliner Abgeordnetengebäude der Parlamentarier und ihrer Ausschüsse, dem Paul-Löbe-Haus. 2001 hat Zarko Bulajic, ein in der Verwaltung des Bundestages tätiger Mann aus Belgrad, das Ensemble gegründet, in dem rund 50 Abgeordnete wie Mitarbeiter der Parlamentsverwaltung und der Fraktionen singen können. Und der Rundfunkchor tritt gerne an extravaganten Sing- und Spielorten auf.

In der fast 200 Meter langen, kathedralenhaft hohen Halle des Gebäudes, in die Architekt Stephan Braunfels die geschwungenen Wände der Ausschusssäle hineinkomponierte, leiteten Gijs Leenaars und Zarko Bulajic abwechselnd diese beiden Chöre. Sie brachten traditionelle und neukomponierte oder verfremdet stilisierte Advents- und Weihnachtslieder zur darbietung. Und Hunderte von Zuhörern, die sich in den Sicherheitsschleusen des Hauses befanden, durften ein paar der Lieder - von "O du fröhliche" bis "Es ist ein Ros entsprungen" - beherzt mitsingen.

Der Rundfunkchor ist neunzig Jahre alt, fünfzehn Jahre stand er unter Leitung des furiosen Briten Simon Halsey, der sich jetzt freundschaftlich verabschiedete. Simon Rattle hatte ihn von London nach Berlin gelockt, denn der Chor ist Partner der Berliner Philharmoniker bei den klassisch-romantischen Messe- und Requiemvertonungen: Bach, Mozart, Brahms, Verdi. Er ist eine Instanz - drei Grammy Awards in den letzten Jahren bezeugen es.

Der neue junge Chorleiter, Gijs Leenaars, kommt aus Holland. Er wurde 1978 in Nijmegen geboren, begann gleich nach dem Studium von Klavier, Dirigieren und Gesang beim Chor des Niederländischen Rundfunks, dessen Chefdirigent er wurde. Ein Mann der stilistischen Vielfalt zwischen Alter und Neuer Musik, quicklebendig ist er dazu. In Berlin will Leenaars das von Halsey breit angelegte künstlerische Spektrum des Rundfunkchors halten, womöglich weiterentwickeln.

"Wir schätzen an Leenaars, dass er echt ist", sagt eine Choristin

Seine 64 festangestellten Berufssängerinnen und -sänger formen den ältesten Rundfunkchor Deutschlands, der rund sechzig Mal im Jahr auftritt. Und Leenaars, ehemals Assistent Halseys, hat allem Anschein nach genügend Ehrgeiz, musikalische Kompetenz und Enthusiasmus, um Pflicht und Kür des Rundfunkchors souverän zu gestalten - die symphonischen Auftritte wie eben auch solch bizarren Projekte des Interdisziplinären. Sein Einstandskonzert beim Berliner Musikfest mit Chorsätzen von Schütz, Schönberg und J. S. Bach, war eine Visitenkarte - ein A-cappella-Chorprogramm mit Tiefenschärfe, glühend und mitreißend dirigiert. Leenaars sei, da sind sich Chormitglieder schon jetzt sicher, der ideale Mann an der Spitze: "Wir schätzen an Leenaars, dass er echt ist", sagt eine Choristin ohne Umschweife.

Ein Chor, der gern künstlerisches Aufsehen erregt. Beispielsweise mit der Matthäuspassion Bachs, wenn sie der amerikanische Regiestar Peter Sellars, die Berliner Philharmoniker, Simon Rattle und der Rundfunkchor in ein theatrales Meditationsritual verwandeln, das auch in New York bejubelt wurde. Es liegt nun auf DVD vor. Oder wenn der Chor im Berliner Berghain mit Gustav Holsts Indien-Kammeroper "Savitri" besticht. Oder mit einer szenischen Fassung des Brahms-Requiems als "Human Requiem" in der Regie Jochen Sandigs, die zuerst in Berlin von Halsey, dann in Paris, Amsterdam und Granada von Leenaars dirigiert wurde. Im nächsten Jahr geht das Requiem nach New York und Hongkong.

"Singen kann jeder!" So lautet das Motto des Chorleiters Simon Halsey. Sein Nachfolger macht genau dort weiter. "Sing!" heißt die Initiative des Rundfunkchors entsprechend. Die rauschhaften "Mitsingkonzerte", bei denen der Rundfunkchor - gemeinsam mit mehr als eintausend Laien - in der Berliner Philharmonie die Monumentalpartituren von Mozart, Mendelssohn, Brahms oder Verdi singt, leitet Halsey weiterhin als Gast- und Ehrendirigent. Gerade wurde der nächste Termin im Mai binnen elf Minuten tausendfach für je 35 Euro ausverkauft. Leenaars dirigiert dafür die nächste "Liederbörse" als Mitsingkonzert für Berliner Schülerinnen und Schüler, womit der Chor bei Berlins Grundschulkindern und -lehrern fürs Singen wirbt. Der wundersame "Leaderchor" für sangesfreudige Manager aus aller Welt ist für diese Saison leider nicht vorgesehen.

Gijs Leenaars hatte in Holland mit Dirigenten wie Mariss Jansons, Nikolaus Harnoncourt, Bernard Haitink und Valery Gergiev als Chorleiter gearbeitet. Fand er Geheimnisse bei ihnen? "Zuerst glaubt man an eine Art Magie, man sieht dann aber, dass diese Dirigenten vor allem genau wissen, was sie tun. Und dass sie im richtigen Moment das Richtige sagen." Leenaars hat Lust auf musikalisch Zeitgenössisches. Es sei relativ einfach, das Publikum mit neuer Musik zu überzeugen, "denn da klingen ja immer Stimmen und Sprachen, die wir kennen. Bei einem Orchester ist das mit neuen Klängen viel abstrakter". Rihm und Kurtag hat er längst dirigiert. "Es ist so spannend, Noten zu bekommen, die noch nie erklungen sind . . . Toll, dass man mit den Komponisten sprechen kann. Wir sind ja nicht im Museum."

© SZ vom 02.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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