Berlinale:Vertrauensfragen

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Acht Stunden sind ein Berlinale-Tag mit Lav Diaz' "Wiegenlied". Iran lässt Drachen los, in einem mysteriösen Detektivspiel.

Von David Steinitz

Kurz vor dem Berlinale-Finale, das am Samstagabend mit der Verleihung des Goldenen Bären und weiterer Preise ansteht, sind die Augenringe der Festivalbesucher, die etwas zombiehaft über den Potsdamer Platz ziehen, recht eindrucksvoll. Insofern ist es von den Programmplanern ein durchaus humorvoller Akt, gerade jetzt noch mal in die Vollen zu gehen und als Schlussfeuerwerk den philippinischen Film "A Lullaby to the Sorrowful Mystery" im Wettbewerb zu zeigen. Denn dieses Wiegenlied für ein trauriges Geheimnis dauert stolze 485 Minuten - mehr als acht Stunden. Zum Vergleich: das ist ungefähr zweimal "Ben Hur".

Zwar hat der Regisseur Lav Diaz bereits längere Filme gedreht. Aber sein schwarz-weißes Kinoessay über den philippinischen Freiheitskämpfer Andrés Bonifacio, der im 19. Jahrhundert den Kampf gegen die spanischen Kolonialherren mit anführte, ist trotzdem keine kleine Herausforderung. Der große Filmkritiker Michael Althen hat einst geschrieben, dass es ein enormer Vertrauensbeweis sei, wenn man während eines Films einschlafe - weil man schließlich nur gut schlafen könne, wenn man sich geborgen fühlt. In diesem Sinne lässt sich über "Lullaby" sagen, dass diesem Film sehr viele Menschen sehr schnell sehr stark vertraut haben.

Ein klassisches Krimi-Detektiv-Spiel, das spiralenhaft sich in sich selbst verheddert, im wilden Iran der Sechziger: der Wettbewerbsbeitrag "A Dragon Arrives!" (Foto: Festival)

Das ist aber nicht weiter schlimm, denn Lav Diaz' Epos entzieht sich ohnehin dem üblichen Bewertungsapparat, weil er sich auch allen gängigen Kino-Konventionen der Dramaturgie und Narration entzieht. Diaz' Schwelgen im philippinischen Dschungel, die langen Mono- und Dialoge der Protagonisten, die vielen Einstellungen, in denen lange Kriegs- und Liebesballaden zur Gitarre vorgetragen werden oder die Darsteller in Ruhe ihre Opiumpfeifchen schmauchen, sollen die Zeit und ihre Vergänglichkeit physisch erfahrbar machen.

"Der Weg von unserer abgelegenen Hütte zur Schule betrug zehn Kilometer", erzählte der Regisseur nach der Premiere. "Wenn Sie diese Strecke über Jahre zweimal am Tag zurücklegen müssen, dann lernen Sie, was Ausdauer bedeutet."

Von Thomas Vinterberg gab's traurig-schöne Erinnerungen an die Kommune seiner Jugend

Sich auf ein solches Kinoabenteuer einzulassen ist für ein Festival wie die Berlinale, die nicht nur konventionelle Filmware abspielen will, natürlich ein Coup. Ob ein achtstündiger Film tatsächlich in den Wettbewerb eines A-Liga-Festivals gehört oder doch eher in einer Nebenreihe besser aufgehoben wäre, das ist eine andere Frage. Denn "A Lullaby to the Sorrowful Mystery" lässt sich praktisch kaum mit den anderen Spiel- und Dokumentarfilmen im Wettbewerb in Konkurrenz setzen - es ist, als hätte man "Krieg und Frieden" bei einem Kurzgeschichtenwettbewerb eingereicht.

Derzeit gilt immer noch das italienische Dokudrama "Fuocoammare" über das Alltagsleben auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa als heißer Favorit für den Goldenen Bären. Aber auf den letzten Metern zur Preisverleihung hat der Film noch mal ordentlich Konkurrenz bekommen.

Ein besonders wilder und wahnsinniger Kinotrip ist der iranische Film "Ejhdeha Vared Mishavad!/A Dragon Arrives!" von Mani Haghighi: Spielfilm, Dokumentarfilm, Experimentalfilm - alles in einem. Ausgangspunkt sind ein paar sehr merkwürdige alte Fotos von drei jungen Männern, die abwechselnd ein Baby auf dem Arm halten und vor einem riesigen Schiffswrack in der Wüste posieren. Diese Bilder gibt es tatsächlich, sie wurden Anfang 1965 aufgenommen, kurz nachdem der iranische Premier erschossen worden war. Was es mit diesen mysteriösen Bildern und ihren Protagonisten auf sich hat, wollte Mani Haghighi wissen. Er rekonstruiert in einem Spielfilmkrimi, wie die drei Männer in schicken 60er-Jahre-Anzügen den Mord an einem politischen Gefangenen aufklären wollen und in eine dubiose Verschwörung verwickelt werden.

Diese unheimliche Geschichte basiert neben den originalen Fotos auf Verhörbändern, die der Filmemacher und sein Team ausgewertet haben - die das Geheimnis aber nicht ganz preisgeben. Weshalb der Spielfilm schließlich zu einem Dokumentarfilm über den Spielfilm wird, in dem Haghighi und seine Leute selbst vor der Kamera erzählen, wie sie noch während der Dreharbeiten auf eine neue Spur gesetzt wurden. Recherche und Fantasie, Fiktion und Dokumentation verschmelzen ineinander, bis sie genauso unauflöslich werden wie das Rätsel dieses Films selbst. "A Dragon Arrives!" kann man als unheimlichen, absurden Thriller ansehen, genauso wie als historisches Porträt eines längst untergegangenen, wilden Iran.

Solche Beiträge im diesjährigen Wettbewerb machen dann auch so manche Enttäuschung wieder wett, von denen auch einige zu sehen waren. Ein Beispiel aus den letzten Festivaltagen: "Kollektivet/Die Kommune" des Dänen Thomas Vinterberg. Der Filmemacher wurde in den Neunzigern mit "Das Fest" zu einem der Regie-Stars der Dogma-Bewegung, die das damals etwas verschnarchte europäische Autorenkino ordentlich auf den Kopf stellte. Vinterberg ist in den Siebzigern in einer Kommune aufgewachsen. In seinem neuen Film verarbeitet er all seine bizarren, traurig-schönen Kindheitserinnerungen in einer fiktiven Geschichte um ein Ehepaar mittleren Alters, das eine alte Villa zum Gemeinschaftswohnort umbaut. Die Schauspieler - allen voran Trine Dyrholm und Ulrich Thomsen - sind ganz wunderbar. Aber Vinterberg verheddert sich in seiner Abhandlung über die Sphären von Intimität und Gemeinschaft und über die Machtstrukturen in privaten Beziehungen leider im erzählerischen Nirgendwo. Aber immerhin ist sein Film sympathische sechs Stunden kürzer als der des philippinischen Kollegen.

© SZ vom 20.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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