Berlinale-Nebenreihe:Die Zukunft erinnert sich an den Überfluss

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Hat Stanley Kubrick inspiriert: der tschechische Film "Ikarie XB 1". (Foto: Berlinale)

Die Retrospektive der Berlinale ist dem Science-Fiction-Kino gewidmet.

Von Philipp Bovermann

Die Filmindustrie begegnet einer unattraktiven Gegenwart gern damit, sie erst einmal neu einzukleiden. Auf der Berlinale laufen dieses Jahr jedenfalls auffällig viele Kostümfilme. Die Retrospektive "Future Imperfect" ehrt mit dem Genre der Science-Fiction jedoch das gegenteilige Prinzip: Gesellschaftliche Fragen von der sie umgebenden Realität zu entkleiden und dann in den Weltraum zu schießen, um zu schauen, wohin sie fliegen, wo das alles hinführen soll.

Die 29 Spielfilme der Reihe, flankiert von der Ausstellung "Things to Come" im Museum für Film und Fernsehen, kreisen im Schwerkraftbereich zweier Themenkomplexe. Einerseits ist das die Begegnung mit dem Fremden, auf Englisch: alien. Der gleichnamige Klassiker findet sich im Programm, Ridley Scotts Entwurf einer Zukunft, in der Männer tödliche Schwangerschaften erleiden und eine Frau die Brut bekämpft. Aber die Reihe zeigt auch exotischere Funde rund um den Globus, außerdem ältere Evergreens wie "Invasion of the Body Snatchers" von 1956.

In diesem Film ersetzen gefühllose Klone aus dem All nach und nach die Bevölkerung einer Kleinstadt. Sie sehen aus wie wir, sie verhalten sich wie wir, und sie werden unseren Platz einnehmen. Richtig unheimlich werden die "Body Snatchers", wenn man gerade "Boston" gesehen hat, der nächste Woche in die Kinos kommt, ein patriotischer Spielfilm über den Anschlag auf den Boston-Marathon im Jahr 2013. Der US-Regisseur Peter Berg schwenkt darin die Weihrauchkelle über den wehrhaften Bürgern der Stadt, die nach dem Attentäter suchen. Sie wissen von ihm nur eines: Er sieht aus wie du und ich.

Das berührt den zweiten Themenkern der Reihe, die Frage nach der Gesellschaft der Zukunft. Besonders interessant sind diesbezüglich die Produktionen aus dem ehemaligen Ostblock, dessen politisches Vermächtnis zurzeit ebenfalls wieder salonfähig wird. Der Kommunismus verstand sich als eine Art realgewordene Science-Fiction-Utopie, auf die alles mit historischer Notwendigkeit zusteuert. In der Zukunft, wenn er endgültig gesiegt haben wird, dürfte es also eigentlich gar keine Probleme mehr geben.

Sobald die Kosmonauten in Jindrich Poláks tschechischer Produktion "Ikarie XB 1" (1963) mit ihrem Raumschiff lostuckern, holt die Vergangenheit sie allerdings ein. Frauen sind nur zum Kinderkriegen da, die Männer stählen im Turnraum ihre Körper - bis die Mission schließlich ein antikes Raumschiffwrack kreuzt. Es ist beladen mit atomaren Sprengköpfen , ein Zeugnis vergangener Barbareien. Die Beschriftungen in seinem Inneren sind auf Englisch verfasst, es finden sich auch Leichen toter Imperialisten. Die Begegnung damit kontaminiert die Mission und setzt eine Handlung in Gang - davor war der turnende Kosmonaut in der Anonymität aufgehoben wie in einem Leni-Riefenstahl-Film.

Doch über die Leinwand fand immer auch Kommunikation zwischen Ost und West statt. Stanley Kubrick ließ sich von "Ikarie XB 1" zu den Entwürfen seiner Raumstation in "2001: Odyssee im Weltraum" inspirieren.

Ansonsten gibt es wenig Hoffnung, die Retrospektive wird von Dystopien und vom Kalten Krieg beherrscht, was aber in den Fünfzigerjahren zu einer nie wieder erreichten Blütezeit der Science-Fiction führte. Mit der nuklearen Bedrohung wurde die Endlichkeit menschlichen Lebens auch auf kollektiver Ebene greifbar. Filme wie "On the Beach" (USA, 1959) oder "O-bi, o-ba" (Polen, 1985) denken auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs das atomare Ende der Geschichte vor und beurteilen von dort aus die Gegenwart.

In den Geisteswissenschaften gewinnt diese Idee seit einigen Jahren wieder an Konjunktur. Der neuseeländische Philosoph Tim Mulgan etwa schildert in "Ethics for a Broken World" von 2011 das Projekt eines Denkens, das nicht mehr von Ursprüngen ausgeht, sondern von Konsequenzen. Er schreibt: "Mein Ziel ist es, dass die Leser über ihre Beziehung zu den zukünftigen Menschen nachdenken." Der "Welt des Überflusses" stellt er eine fiktive "gebrochene Welt" entgegen, aus deren Warte die "im Überfluss" verfassten klassischen Texte der Ethik neu zu bewerten seien. Die dringlichste globale Bedrohung für die Menschheit ist heute nicht mehr die Atombombe, sondern die raketenhaft auf uns zusteuernde Klimakatastrophe.

"Soylent Green" zeigt, wie lang der Schweif dieser Rakete ist - der Film stammt von 1973. In einer Szene essen zwei Männer eine Mahlzeit, bestehend aus richtigen Lebensmitteln. Wegen des fortgeschrittenen Treibhauseffekts können sich das eigentlich nur noch Superreiche leisten. Der sagenhafte Genuss, den sie dabei empfinden, gehört zum Traurigsten, was eine gealterte Zukunft unserer Gegenwart zu zeigen hat.

© SZ vom 16.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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