Berlin:Die Masken der Söhne

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Der Askanische Platz war einer der halb-mythischen Orte der Berliner Moderne. Hier spielt 1928 der neue, der sechste Fall für Ermittler Leo Wechsler. Ein Berlin-Krimi, der Mythen, Legenden und Verkehr im Hintergrund rauschen lässt.

Von Jens Bisky

Gleich neben dem altsprachlichen Gymnasium, in dem Hunderte ihre Schulzeit verbüßen, lockt das Cabaret des Bösen. Es verspricht Folter, Grauen, Ruchloses in lebensechten Darbietungen und könnte besser kaum liegen als hier in der Halleschen Straße, neben dem Anhalter Bahnhof und den vielen Hotels für Gäste auf Großstadtexpedition. Der Askanische Platz war einer der halb mythischen Orte der Berliner Moderne. Hier spielt der neue, der sechste Fall Leo Wechslers. Susanne Goga hat den Kommissar zum ersten Mal 2005 auftreten lassen, er zählt zu den Männern um den "Buddha der Kriminalisten", Ernst Gennat, der ja spätestens seit dem Erfolg von Volker Kutschers Gereon-Rath-Romanen zu einer Heldenfigur urbaner Legenden geworden ist.

Es nimmt sehr für Susanne Goga ein, dass sie Mythen, Legenden und Verkehr im Hintergrund rauschen lässt und ihren Kommissar Leo Wechsler nicht ins Traumbild jener Zwanziger, sondern im Januar 1928 auf den Hinterhof von Schule und Cabaret schickt. Dort wird im Schuppen eine Leiche gefunden. Der Tote ist nicht zu identifizieren. Sein Rücken ist voller Narben, ein Bruch des rechten Schienbeins schlecht verheilt, eine alte Schusswunde im Unterbauch muss schlecht versorgt worden sein. Der Mann war unterernährt, seine Kleidung schäbig. Was tun? Die Schüler befragen und die Mitarbeiter des Cabarets, die Frau suchen, die vor Kurzem im Hinterhof nach einem Fjodor gefragt hat.

Sohn Georg ergaunert sich Geld für eine braune Uniform, Vater Wechsler ist ratlos

Die Ermittlungen führen unter anderem zu "Nasenjoseph", dem Arzt Jacques Joseph, einem plastischen Chirurgen, der entstellten Kriegsverletzten half, wieder ein Gesicht zu bekommen. Sein berühmtester Patient war Mustafa Ipar, dem ein Granatsplitter Nase, Wangenknochen, Oberkiefer, Mund, rechtes Auge weggefetzt hatte. Die historische Figur des Chirurgen spiegelt Susanne Goga in der erfundenen Maskenbildnerin Fleurette, die vom Théâtre du Grand Guignol nach Kreuzberg, ins Cabaret des Bösen kam, das es dort nie gegeben hat, das aber in der Konstruktion des Kriminalromans eine entscheidende Rolle spielt. Der Leser profitiert nicht nur von den akribischen Recherchen der Autorin, sondern ebenso von ihrer Freude an Erfindungen, Motivwiederholungen, Spiegelungen und Kontrasten. Er kann sicher sein, dass keine Spur in die Irre führt, selbst Nebensächliches bedeutend ist.

"Nachts am Askanischen Platz" greift, ohne zu dozieren, große Themen der Zeit auf, etwa die Verheerungen des zehn Jahre zurückliegenden Gemetzels an allen Fronten. Ein Foto von Mustafa Ipars zerstörtem Gesicht hat Ernst Friedrich 1924 in seine Dokumentation "Krieg dem Kriege!" aufgenommen, die ein anti-militaristischer Welterfolg wurde. Zum anderen geht es um Söhne und Eltern. Der Vater-Sohn-Konflikt verbindet auch die Krimi-Handlung im engeren Sinne mit der Familiengeschichte des Kommissars. Sohn Georg ergaunert sich Geld für eine braune Uniform, Vater Wechsler ist ratlos, aber noch scheint seine Welt in Ordnung zu sein. Privat helfen klare Worte, beim Ermitteln Geduld und Professionalität.

Dieser Berlin-Krimi besticht auch dadurch, dass er immer wieder aus der Stadt hinausführt: auf Schlachtfelder des Weltkriegs, in ein ukrainisches Dorf, sogar nach Stuttgart. Es hätte nahe gelegen, viel vom Anhalter Bahnhof zu reden, Tempo und Zeitgeist zu beschwören, Susanne Goga hat zum Glück lieber ein gruseliges Eisenbahn-Motiv in ihre Geschichte geflochten. Sie erzählt von der Stadt mit aufmerksamer Abgeklärtheit, neugierig, aber misstrauisch gegenüber den abgenutzten Effekten.

Susanne Goga: Nachts am Askanischen Platz. Ein Fall für Leo Wechsler. dtv Verlagsgesellschaft, München 2018. 320 Seiten, 10,95 Euro. E-Book 8,99 Euro.

© SZ vom 06.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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