Autoren:Das Herz erreichen

Lesezeit: 5 min

Zeruya Shalev und Albert Ostermaier reden über Privates und Politisches beim Schreiben. Und über gute Literatur.

Interview von Johanna Pfund

Zeruya Shalev und Albert Ostermaier leben in unterschiedlichen Welten. In Israel, der Heimat Shalevs, ist Gewalt allgegenwärtig. Deutschland dagegen bekommt Terror und Krieg über das Flüchtlingsthema eher indirekt mit. Beide Schriftsteller gehen auf eigene Weise mit dem Thema um. Ein Gespräch über Politik, Autobiografie und Literatur.

Im Mittelpunkt des Literaturfests steht das Thema Flucht. Wie erleben Sie das derzeit in Deutschland?

Zeruya Shalev: Zu Deutschland: Ich habe noch keinen einzigen Flüchtling gesehen, seit ich hier in Deutschland bin. Doch ich habe schon so viel davon gehört, von vielen Freunden. Dass es eine Möglichkeit ist, zu geben und sich für Menschenrechte einzusetzen. Als ich hörte, wie Angela Merkel sagte, Deutschland öffne seine Pforten, bewunderte ich sie. Es ist so ein edler Schritt, den sie gemacht hat. Die Flüchtlingsfrage ist für Deutschland auch eine Möglichkeit, geschehenes Unrecht zu korrigieren. Aber nichts ist leicht in dieser Welt, ich denke, es kann auch Konflikte geben.

Sie schreiben viel über Emotionen, innere Entwicklungen. Werden Sie auch einmal etwas Politisches schreiben?

Shalev: Ich weiß es nicht. Einerseits engagiere ich mich persönlich zunehmend politisch. Ich habe mich "Women wage Peace" angeschlossen, einer Organisation, die Netanjahu dazu bewegen will, mit den Palästinensern zu verhandeln. Wir haben ein Zelt gebaut, wir saßen da, vor der Residenz Netanjahus. Wir probierten auch, Zugang zu dem palästinensischen Präsidenten zu bekommen und hatten sogar einen Termin, aber er sagte ihn ab. Ich selbst werde also politischer. Doch ich will, dass beim Schreiben die politischen Fragen im Hintergrund bleiben. Die emotionale Welt ist so viel tiefer und inspirierender! Sie ist voller neuer Antworten. Die politischen Konflikte sind so roh. Interessant wird es aber, wenn beide Welten aufeinandertreffen. In meinem Roman "Schmerz" beschreibe ich, wie die Familie die Verletzungen der Mutter, die sie bei einem Selbstmordattentat erlitten hat, als private Frage sieht, obwohl es doch eine politische ist. Sie geben sich selbst die Schuld. Die Kombination zwischen persönlichen und politischen Fragen zeigt das Paradoxe der Situation.

Albert Ostermaier: Ich denke, man kann Politik und Privates nicht auseinanderhalten. Man muss in der Literatur beide Seiten sehen, beide beeinflussen sich. Im Libanon habe ich ein Flüchtlingslager besucht. Ich war noch nie zuvor in einem Lager, dort sah ich all die Kinder und Flüchtlinge und plötzlich war mir klar: Jeder hat seine eigene private Geschichte, sein privates Leben mitten in der Politik. Das hat meine Art zu schreiben verändert. Darüber zu schreiben war für mich komplett anders, als ein Liebesgedicht zu schreiben. Ich dachte, Liebesgedichte kann man immer schreiben, aber das war danach nicht möglich. Als Autor muss man sensibel und offen sein, man muss den Leuten zuhören. Wenn man offen ist und genau, ist man schließlich immer auch ein politischer Autor.

"Es gibt keine Regeln, was Literatur muss", darin sind sich Zeruya Shalev und Albert Ostermaier einig. (Foto: Ulrich Baumgarten/Vario Images)

Sie sind mit "Lenz im Libanon" definitiv politischer als Frau Shalev.

Ostermaier: Für mich ist das auch eine persönliche Geschichte. In einem meiner ersten Stücke habe ich mich zum Beispiel mit Ernst Toller auseinandergesetzt. Er gehörte der bayerischen Räterepublik an, kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Seine Priorität war das Schreiben, aber er hat sich immer politisch engagiert, auch gegen die Nazis. Manchmal muss man Distanz zur Politik finden, manchmal ist man näher dran.

Sie haben beide eigene Erlebnisse in ihren Werken verarbeitet. Frau Shalev, Sie wurden bei einem Attentat verletzt, Herr Ostermaier, Sie waren im Libanon. Muss man Dinge selbst erlebt haben, um darüber schreiben zu können?

Shalev: Soll ich zuerst antworten? Ja, in der Tat wurde mein Buch durch meine eigenen Erfahrungen beeinflusst. Andererseits habe ich nicht über mich geschrieben. Es hat viele Jahre gebraucht, diese Erfahrung zu verarbeiten. Erst als ich "Schmerz" schrieb, kam es wie von selbst. Dadurch, dass ich erst zehn Jahre nach dem Attentat darüber geschrieben habe, ist es jedoch eine ganz andere Geschichte geworden. Es ist jetzt eine universelle Geschichte. Ich fühlte mich, als würde ich über eine andere Frau schreiben. Schreiben, das ist immer eine Mischung von Geschichten aus dem eigenen Leben, aus Vorstellungen und aus den Geschichten, die man von anderen Leuten hört. Es ist fast wie beim Kochen. Wenn man die Hauptperson Iris in "Schmerz" nimmt: Ich hatte nie diese unerfüllte Jugendliebe. Dennoch habe ich mich komplett in sie hineinversetzt. Ich fühlte alles, was sie fühlt. Das ist der Moment, in dem Schreiben autobiografisch wird.

Ostermaier: Autobiografisches Schreiben ist Fiktion. In dem Moment, in dem man schreibt, ist man kreativ. Man hat seine eigenen Gefühle, man erinnert sich an seine Gefühle. Man hat seine Erfahrungen und überträgt sie in Literatur. Es ist völlig falsch zu sagen, dass Dinge nur wahr sind, wenn man sie erlebt hat. Ich weiß ja zum Beispiel, es gibt Schmerz.

Shalev: Ja, das stimmt absolut.

Welche Rolle spielt Ihrer Ansicht nach die Literatur angesichts der aktuellen Ereignisse? Sollte sie Stellung beziehen?

Ostermaier: Für mich ist das eine persönliche Entscheidung. Ich bin verantwortlich für mein Schreiben. Es gibt keine Regeln, was Literatur muss. Literatur muss die Gesellschaft reflektieren, muss Geschichten erzählen, die noch nicht erzählt sind, muss die Dinge in ihrer Komplexität zeigen. Dass es nicht nur Schwarz und Weiß gibt. Es geht um Möglichkeiten. Literatur kann sensibler machen.

Shalev: Das ist wahr. Albert hat das völlig richtig gesagt. Allerdings ist die Lage in meinem Land komplexer. Man erwartet, dass Autoren den israelisch-palästinensischen Konflikt beschreiben. Doch ich mag diese Erwartungen nicht. Ich will, dass meine Literatur frei ist. Manchmal habe ich das Gefühl, mein Land kontrolliert ja schon mein Leben, und ich möchte nicht, dass es auch noch Kontrolle über meine Literatur ausübt. Natürlich habe ich eine Rolle neben meinem Schreiben, ich versuche, aktiv in der Friedensbewegung zu sein. Aber Schreiben muss authentisch sein. Natürlich reflektieren meine Werke das Leben in Israel, denn die Geschichten spielen in Israel, und damit ist die Politik im Hintergrund immer präsent. Ich denke aber nicht, dass Literatur Frieden bringen kann. Nur auf lange, lange Sicht gesehen kann sie etwas bewirken. Was die Literatur kann, das ist, Sensibilität für Emotionen zu schaffen.

Herr Ostermaier, Sie schreiben als deutscher Autor von einer gewissen Luxus-Warte aus.

Ostermaier: Ja, sicher, wenn man nicht selbst in Gefahr ist, nimmt man immer eine Luxusposition ein. Doch für mich ist wichtig: Es gibt auch bei uns im Land Gewalt - in Familien, es gibt Krieg zwischen Paaren, gegen Kinder. Ich schreibe, weil es in meinem Herzen brennt. Aber egal, ob man Politisches schreibt oder nicht: Man will Literatur schreiben, gute Literatur und gute Sätze.

Was ist gute Literatur für Sie?

Shalev: Gute Literatur muss einen gewissen Stil haben, muss bewegend sein, muss dein Herz brechen.

Ostermaier: Ja, genau so. Man muss etwas riskieren, in der Sprache genauso wie im Leben. Im Leben ist alles möglich. Man kann lesen und sich selbst verändern, das ist so schön an Literatur. Man ist kreativ, beim Schreiben wie beim Lesen.

"Schmerz" mit Zeruya Shalev, 26. November, 19 Uhr, Gasteig. Es moderiert Shelly Kupferberg, Maria Schrader liest.

"Überleben", 27. November um 19 Uhr im Marstall. Zeruya Shalev und Dima Wannous erzählen.

© SZ vom 12.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: