Autor John Jeremiah Sullivan:Wer so schreibt, darf "ich" sagen

Nein, es ist nicht übertrieben, John Jeremiah Sullivan zum besten jungen Autor Amerikas zu erklären. Seine Reportagen sind klug, unterhaltsam, aufregend. Sullivan weiß, dass guter Journalismus nicht nur brav informieren oder herummeinen darf, sondern Entdeckungen machen muss.

Jens-Christian Rabe

Von dieser Seite der Welt aus gesehen, umgeben dieses Buch einige mittelschwere Wunder. Und dass der 37-jährige Autor von der amerikanischen Kritik nach der Veröffentlichung der Originalausgabe sofort zu den besten jungen englischsprachigen Autoren der Gegenwart gezählt wurde, ist eigentlich nur das geringste davon. Schon erstaunlicher ist, dass die fünfzehn Texte in John Jeremiah Sullivans Buch "Pulphead - Axl Rose, die Tea Party & Ich", das jetzt auf Deutsch erscheint, nicht nur an berühmten Orten wie der Paris Review, Harper's oder dem New York Times Magazine im Laufe der vergangenen dreizehn Jahre erstmals veröffentlicht wurden, sondern vor allem im Männermagazin GQ. Nun ist die amerikanische GQ journalistisch ambitionierter als die deutsche. Aber zwanzig oder sogar vierzig Seiten lange, eher stille, skrupulöse Artikel des besten jungen Essayisten über die Lage des Landes, unserer Gegenwart oder auch des Lebens ganz allgemein erwartet man dort trotzdem nicht unbedingt.

Wobei es nicht ganz korrekt ist, vom "besten jungen Essayisten" oder "besten jungen Autor" zu sprechen. In der New York Times war die Rede vom besten jungen "Non-Fiction-Autor". Zu der in der englischsprachigen Welt üblichen Unterscheidung von "Fiction" und "Non Fiction" gibt es in der deutschen literarischen Tradition keine wirkliche Entsprechung. Wir trennen zwischen "Belletristik" und "Sachbuch". Man käme kaum auf die Idee, den "besten jungen Sachbuch-Autor" zu küren.

Eine heikle Sache

Dafür wird im deutschen Sachbuch traditionell zu viel Wert auf die Sache gelegt und zu wenig auf deren möglicherweise auch stilistisch ambitionierte Aufarbeitung. Vor allem aber gibt es die mittlere Länge in deutschen Magazinen, Zeitschriften und Zeitungen nur selten. Also aktuelle, letztlich journalistische Texte, die länger als die üblichen 15.000 oder 20.000 Zeichen sind, aber mit 35.000 bis 90.000 Zeichen - 20 bis 50 Buchseiten - kürzer als kurze Bücher. Und dann ist da ja noch die Sache mit dem "ich".

Einen journalistischen Text aus der Ich-Perspektive zu schreiben, ist eine heikle Sache. Auch in Amerika (obwohl es dort sogar vergleichsweise selbstverständlich ist, dass Literaturkritiker "ich" sagen). Zu schnell entsteht der Verdacht, dass sich der Berichtende selbst wichtiger nimmt als das Berichtete. Und oft bestätigt er sich leider auch.

John Jeremiah Sullivan sagt hemmungslos "ich". Die Konsequenz, mit der er bereit ist, als Reporter am eigenen Leib den Wahnsinn der niedrigen und niedrigsten Gegenwartskultur zu erforschen, erinnert an den Extrem-Journalisten Hunter S. Thompson. Das zeitdiagnostisch ambitionierte, also weniger journalistisch als intellektuell motivierte Ich-Sagen wiederum haben in Amerika in den vergangenen Jahren besonders Zeitschriften wie n+1, The Believer, The Common oder The Point eine neue Aufmerksamkeit verschafft.

Nicht nur brav informieren oder herummeinen

Besonders macht Sullivans Texte, dass er einen Weg gefunden hat, beides verblüffend uneitel zu versöhnen: Biographisches, eigene Schwächen, sogar das Schicksal der eigenen Familie mit dem Allgemeingültigen, mit Beobachtungen und Erkenntnissen, die auch in einem größeren Rahmen bestehen können. Wie genau dieser Autor weiß, dass Journalismus da am besten ist, wo er weder seinen Ursprung, das unterhaltsame, berührende aktuelle Geschichtenerzählen, verleugnet, noch vergisst, dass er nicht nur brav informieren oder herummeinen darf, sondern Entdeckungen machen muss, die den Blickwinkel verändern, in dem man danach auf eine Sache sieht! Das kann ein etwas zu feindseliger Auftritt eines konservativen Querulanten sein bei einem Townhall-Meeting eines demokratischen Politikers, mit dem die Tea-Party-Bewegung plötzlich ein aufklärerisches Phänomen ist. Oder detektivische Vergleiche von alten Blues-Texten mit der Hilfe von verschrobenen Musikforschern, die am Ende eine Ahnung davon geben, was an dieser amerikanischen Ur-Musik nun im engeren Sinne große Kunst ist, und was doch nur "Tanzmusik für betrunkene Erntehelfer".

Mit großer Sorgfalt sucht und findet Sullivan die Details, von denen sich über einen Menschen, über den eigentlich alles gesagt ist, doch noch etwas Aufregendes erzählen lässt. Im Mittelpunkt des Michael-Jackson-Porträts stehen plötzlich die ungewöhnlich offenen Interviews, die der Sänger schwarzen Lifestyle-Magazinen, denen er vertraute, gab, als er eigentlich schon keine Interviews mehr zuließ. Als helfendes Genie steht dann auch nicht wie üblich nur der weltberühmte Produzent Quincy Jones im Fokus, sondern dessen Toningenieur Bruce Swedien. Und beim legendären Moon-Walk-Auftritt bei der NBC-Sondersendung zum 25. Geburtstag von Motown, geht es Sullivan nicht um den Teil, den jeder bei YouTube sehen kann, sondern um die kleine Vorrede Jacksons, die nur auf der DVD des Ereignisses zu sehen ist.

Feiern war alles, worum man sich kümmern musste

Auch die Geschichten über Disney World oder über den letzten lebenden Musiker aus Bob Marleys Band The Wailers sind voller solcher Funde. Manchmal ist es nur ein besonderer Laut, ein Ton, eine Betonung. Das Vorgehen hat dabei System - und ist doch nie vorhersehbar: "Ich arbeite zu meinen Themen stapelweise Bücher und Archivmaterial durch, bevor ich Interviews mache und reise", erzählte Sullivan dem Guardian: "Ich finde es aufregend, auf Dokumente zu stoßen, die noch nicht Teil einer Story sind. Sie sind so etwas wie Inseln der Legitimität, von denen aus man sich dann trauen kann, selbst etwas zu erzählen."

Der New Yorker hat Sullivan dafür gelobt, dass er - anders als etwa die New Journalists Tom Wolfe oder Joan Didion - seinen Themen nicht einen immer gleichen Stil aufzwinge, sondern seine Prosa wie ein guter Romancier seinen Gegenständen anverwandeln kann. Auch als Nicht-Muttersprachler bekommt man davon bei der Lektüre der Originaltexte eine gute Ahnung, der Text über das Reality-TV etwa klingt ganz anders als der über Michael Jackson. In der Übersetzung geht davon zwangsläufig viel verloren. Thomas Pletzinger und Kirsten Riesselmann haben das Übrige meistens souverän, oft elegant ins Deutsche gerettet. Sie sind um diese knifflige Aufgabe nicht zu beneiden gewesen.

Etwas leichter dürfte es gewesen sein, die immer präzisen und oft bildgewaltigen Beschreibungen Sullivans zu übertragen, die auf dem schmalen Grat zwischen Bloßstellung und Überhöhung liegen, den man genau kennen muss, wenn man heute noch etwas Sinnvolles über populäre Kultur sagen will: "Auch wenn ich nicht behaupten kann, dass Axl an diesem Abend genauso gut tanzt wie früher; als seine Fersen noch fließend von der Körpermitte weg nach außen glitten und es aussah, als seien beide mit einem Zauberstab berührt worden, der sie von Widerstand und Masse erlöste, und auch wenn er mich in gewissen Augenblicken an meinen besoffenen Redneck-Onkel erinnert, der nach einer Super-Bowl-Party versucht, ,seinen Axl Rose' zum Besten zu geben: Er schlägt sich ehrenvoll. (. . .) Und nach jeder Zeile starrt er die Menge aus diesen merkwürdig verwunderten und trotzdem furchtlosen Augen an, die aussehen, als hätte man ihn gerade dabei überrascht, wie er sich in seinem Bau über ein Stück Aas hermacht."

Man ist auch als Europäer bereit zu nicken

Und dann ist da noch der letzte Absatz der Reality-TV-Geschichte, in deren Mittelpunkt der "Miz" steht, einer der bekanntesten und beliebtesten Teilnehmer von MTVs Reality-TV-Show "The Real World", der heute als Star-Proll durch Provinz-Discos tingelt: Der Auftritt des Miz in irgendeinem Club ist gelaufen, er tanzt noch ein bisschen mit einem Mädchen, dessen Brust er ein Weile zuvor signiert hatte. Der Reporter verabschiedet sich, der Miz ruft ihm ein joviales "Cool, bro!" hinterher und Sullivan schreibt: "In diesem Augenblick fiel es mir unglaublich schwer, etwas Schlechtes über den Miz zu denken. Erinnern Sie sich an Ihr letztes Jahr im College? Wie das war? Feiern war alles, worum man sich kümmern musste, und wenn man loszog, spürte man, dass die Leute einen cool fanden. Es war ein großer Spaß. Jung und Amerikaner zu sein. Erinnern Sie sich an dieses Gefühl?"

Man liest das und ist auch als Europäer bereit zu nicken, und dann ginge es gemütlich zu Ende, man wäre eins mit dem Miz, obwohl man das vor der Lektüre des Artikels natürlich noch für absolut unmöglich gehalten hätte. Und das wäre auch eine schöne Pointe. Aber so endet es gerade eben nicht. Es endet so: "Erinnern Sie sich an dieses Gefühl? Ich mich auch nicht. Aber der Miz erinnert sich. Er hat einen Weg gefunden, für immer in diesem Gefühl zu leben. Drückt ihm die Daumen, Leute." - "Remember that? Me neither. But the Miz remembers. He figured out a way never to leave this place. Bless him, bros."

Also, es mag etwas pathetisch klingen, aber ich glaube, dass jeder, der heute ein besserer Autor sein möchte, eine gute Weile in diesen Band lesen sollte. Und alle, die einfach nur ein paar sehr, sehr gute, wahre, berührende Geschichten darüber lesen wollen, was es heißen kann, heute zu leben, und zwar nicht nur in Amerika, sollten das eigentlich auch tun.

John Jeremiah Sullivan: Pulphead. Vom Ende Amerikas. Aus dem Englischen von Thomas Pletzinger und Kirsten Riesselmann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 416 Seiten, 20 Euro.

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