Australische Literatur:Höfliche Hölle

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Jenseits der Brücke am Kwai: "Der schmale Pfad durchs Hinterland" des australischen Schriftstellers Richard Flanagan erzählt vom Krieg mit Japan.

Von Ulrich Baron

Mit der Schlacht um Singapur endete am 15. Februar 1942 die Zeit der europäischen Vorherrschaft in Südostasien, und Zehntausende britische, indische und australische Soldaten gerieten in japanische Kriegsgefangenschaft. Im Ersten Weltkrieg hatten viele Bürger der überwiegend weißen Dominions Neuseeland und Australien an der Seite ihres britischen Mutterlandes im fernen Europa gekämpft, doch nun ging es um die Verteidigung ihrer eigenen Heimat gegen Japans Expansionspolitik.

Einmal in Gefangenschaft geraten, kämpften sie ums nackte Überleben. Neuntausend Australier wurden als Zwangsarbeiter zum Bau der "Death Railway" durch Siam eingesetzt, die ihren Namen jenen ungezählten Opfern verdankt, die den Strapazen, dem Hunger, der mangelnden Hygiene, den Tropenkrankheiten und der Misshandlung durch ihre Wärter erlagen. Aus britischer Perspektive bekannt wurde dieses Kapitel der Weltkriegsgeschichte 1957 durch David Leans Verfilmung von Pierre Boulles drei Jahre zuvor erschienenem Roman "Die Brücke am Kwai".

Mit seinem auf ausführlichen Recherchen, auch auf Berichten seines Vaters beruhenden Roman "Der schmale Pfad ins Hinterland" hat der 1961 auf Tasmanien geborene Richard Flanagan nun mehr als ein bloßes Gegenstück zu diesem Klassiker geschrieben. Sein Buch erzählt die Liebes- und Lebensgeschichte des tasmanischen Chirurgen Dorrigo Evans, der im Lager versucht hat, seine Kameraden vor dem brutalen Regiment des Leiters, Major Nakamura, zu schützen.

Nach dem Krieg ist Evans als Arzt erfolgreich und als Held gefeiert worden, aber seine Erlebnisse im Lager grundieren sein weiteres Leben: "Der alte Mann träumte, er wäre ein junger Mann, der im Kriegsgefangenenlager liegt und schläft". Als aber am Schluss sein Leben in einer finalen Rückblende zu verlöschen scheint, steht mitten in der Dunkelheit des nächtlichen Lagers eine "leuchtend rote Blume". Solch eine Blume hatte die blonde Amy, die er im Krieg getroffen, geliebt und verloren hatte, bei ihrer ersten Begegnung hinterm Ohr getragen. Amy war die Frau seines Onkels, und Evans hatte kurz vor seinem Einsatz die manchmal "etwas einfältige" Ella geheiratet, die auch berechnend sein konnte. Ins Lager hatte sie ihm einen Brief geschickt, der auf perfide Weise einen Schlussstrich unter sein Verhältnis mit Amy zog.

"Bin in Kioto / Doch beim Kuckucksschrei sehn ich / mich nach Kioto"

Aus der Hölle des Lagers, wo manche Patienten sich ihm unter den Händen in Blut, Eiter und verwesendes Fleisch aufgelöst hatten, ist Dorrigo nach dem Krieg in eine kommode bürgerliche Existenz hineingeglitten - in einem Land, das seine Helden feiert und seine Opfer verdrängt. Wenn Flanagan das Grauen der Zwangsarbeit in naturalistischer Ausführlichkeit beschreibt, so hat das auch etwas Kathartisches, denn sein Buch erschöpft sich nicht in einer bloßen Rekapitulation des Schrecklichen: "Bin in Kioto,/ doch beim Kuckucksschrei sehn ich/ mich nach Kioto", rezitiert der japanische Colonel Kota ein Haiku Bashos.

Hatte er eben noch von der Kunst des Köpfens geschwärmt, so spricht er nun mit dem Lagerleiter Nakamura "über die Weisheit der frühen Issa-Haikus, über den großen Buson", und über das Wunder von Bashos poetischem Reisebericht "Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland", der Flannagans Roman seinen Titel leiht.

Flanagans Erzählen nimmt so auch die japanische Perspektive auf, ist durchsetzt von Zitaten einer Kultur, deren hoch entwickelte Sitten von einem skrupellosen Militarismus okkupiert, auf bedingungslosen Gehorsam und einen "perversen Todeskult" getrimmt worden waren. Im Originaltitel "The Narrow Road to the Deep North" geht diese Annäherung weiter als in der deutschen Übersetzung. Der Ausdruck "Deep North" weckt andere Assoziationen als der Pfad durchs "Hinterland".

Flanagans tasmanische Heimat ist die Südinsel der Terra australis incognita, also gewissermaßen das Australien Australiens im tiefen Süden. Der aus europäischer Sicht ungewöhnliche Ausdruck "Deep North" stellt die Antipodenperspektive auf den Kopf. Da akzentuiert ein Australier seine eigene Perspektive, und der sind die Länder des pazifischen Raums näher als Europa. Für Flanagans Landsleute waren nicht die Deutschen Kontrahenten des Zweiten Weltkriegs, sondern die expansionistischen Japaner.

"Er wusste, dass es diese Erfahrung gab, doch er konnte sich nicht mehr erinnern."

Nach dem Krieg entkommt Nakamura den amerikanischen Kriegsgerichten und wird zu dem Menschen, der er ohne Uniformierung vielleicht immer gewesen wäre: "Tenji Nakamura war sprachlos, so viel Gutes in sich zu finden", heißt es, und das ist keineswegs ironisch gemeint. Kurz vor Fertigstellung seines Romans sei er nach Japan gereist, berichtet der Autor, und habe dort Männer getroffen, die als Lageraufseher den Bau der Todeseisenbahn überwacht hatten. Gerade der, den sein Vater als den schlimmsten beschrieben habe, sei ihm als ein "höflicher, gutmütiger und großzügiger alter Mann" begegnet. Nachdem er seinem Vater davon berichtet habe, sei für den jede Erinnerung an seine Gefangenschaft erloschen: "Er wusste, dass es diese Erfahrung gab, doch er konnte sich nicht mehr erinnern. Es wirkte auf mich wie eine Befreiung." Diese innerliche Befreiung bleibt dem Helden des Romans versagt. Dorrigo behagt sein erfolgreiches Leben nicht. Die Energie, die ihm ermöglicht hat, als Sklave des japanischen Kaisers die grüne Hölle zu überleben, treibt ihn in "zahllose, manchmal sogar parallel laufende Affären", in "Wutausbrüche, zielloses Mitgefühl und waghalsige Operationen", mit denen er vergeblich versucht, seine Lebensgeister wieder aufzuwecken.

Der Roman beginnt mit Kindheitserinnerungen seines Helden an Sonnenstrahlen in einem Kirchensaal und endet mit einem Traum vom Dschungel, in dem es um die Liebe geht. Dazwischen liegen zahlreiche Vor- und Rückblenden und Wechsel der Figurenperspektive, die bisweilen ineinander gleiten. Das Erzählen changiert zwischen einem albtraumhaften Naturalismus der Lager-Szenen und der Unwirklichkeit eines friedlichen Alltags: "Als Arzt bewunderte er die Wirklichkeit und versuchte in ihr zu leben", heißt es über Evans: "Doch in Wahrheit bezweifelte er ihre Existenz. Er war in einem pharaonischen System versklavt gewesen, an dessen Spitze zudem ein Sonnengott gethront hatte, und insofern war die Einbildung für Dorrigo die größte Kraft des Lebens."

Evans ist ein Mann, der sich in Kioto nach Kioto sehnt und sich selbst im Todestraum noch nach der verlorenen Geliebten Amy sehnen wird. Selbst als er seine Familie aus einem Buschbrand rettet, erscheinen er und Ella nicht als Paar, sondern als die "gequälten hoffnungslosen Seelen zweier Erwachsener, die in so etwas wie Liebe zusammenlebten, nur ohne Liebe; die ihre ungeteilten Leben teilten". Was die beiden so hoffnungslos aneinander gekettet hatte, erfährt man erst auf den letzten Seiten, auf denen sich der sterbende Held schließlich zurück im Lager wähnt und eine Liebesgeschichte liest. Jemand hat die letzte Seite aus dem Buch herausgerissen.

Es gibt kein Happy End. Überhaupt kein Ende. Der schmale Pfad durchs Hinterland führt als Traumpfad, als Seelenreise weiter: "Und Dorrigo Evans begriff, dass seine Liebesgeschichte für immer weitergehen würde. Er würde in der Hölle leben müssen, denn auch das war die Liebe." Mit diesem Roman hat Richard Flanagan seinen Markstein einer eigenständigen Literatur Australiens geschaffen.

Richard Flanagan: Der schmale Pfad durchs Hinterland. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Piper Verlag, München 2015. 448 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.

© SZ vom 22.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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