Ausstellung zu Gezi-Park-Protesten:Wortexplosionen im Mund

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Ein Mann mit Gasmaske während der Proteste in Istanbul im Juni 2013 - nun steht der Jahrestag an. (Foto: dpa)

Ein Jahr danach: Mit einer beeindruckenden Ausstellung wird in Istanbul der Demonstrationen um den Gezi-Park 2013 gedacht. Zehn Portraits von Gewaltopfern stehen auch für mehr als eine Dekade Erdogan-Regierung - und ein gebrochenes Versprechen.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Am 1. Juni vor einem Jahr ging Burak Ünveren vor seinem Haus im Istanbuler Stadtviertel Beşiktaş auf die Straße. Es war der Tag nach dem ersten großen Polizeieinsatz gegen eine Handvoll Menschen, die den Gezi-Park am Taksim-Platz besetzt hatten. Halb Istanbul war in Aufruhr. Burak Ünveren war kein Demonstrant, er wollte wissen, was sich direkt vor seiner Tür abspielte. Dann traf ihn eine Tränengasgranate, direkt ins linke Auge. "Ich habe den Polizisten nicht gesehen, der auf mich schoss", sagt der 32-Jährige, "aber ich denke, er hat es absichtlich getan."

Burak Ünveren zeigt sein Gesicht mit der leeren Augenhöhle und er erzählt seine Geschichte, gemeinsam mit neun anderen türkischen Gewaltopfern. Dies geschieht in einer beeindruckenden Ausstellung der polnisch-deutschen Fotografin Agata Skowronek, die ihre erste Station in Istanbul gefunden hat. Der Titel "Zero Tolerance" zitiert ein Versprechen von Premier Recep Tayyip Erdogan, der einst die Maxime ausgab: "Null Toleranz gegenüber der Folter". So stehen die zehn Portraits auch für mehr als eine Dekade Erdogan-Regierung und ein gebrochenes Versprechen.

Umut Gökçe, einen Computerspezialisten, haben Vorgesetzte während seines Wehrdienstes halb tot geprügelt. Mehmet Salih Filiz saß im berüchtigten Jugendgefängnis von Pozantı und sagt in einem Video, "schon eine Minute" dort genüge für ein Trauma. Mevlüt Can setzt sich für seinen Sohn der Kamera aus. Denn Onur Can wurde auf einem Polizeirevier so schwer misshandelt, dass er vor einer erneuten Vernehmung - wegen ein paar Gramm Haschisch - aus dem Fenster in den Tod sprang.

Weil das türkische Anti-Terrorgesetz immer noch sehr, sehr weit gefasst ist, soll demnächst eine junge Frau mit ihren wenige Monate alten Zwillingen eine zweijährige Haftstrafe antreten. Ihr Verbrechen: Sie hat in einem kurdischen Kulturzentrum Literatur verkauft hat, die man in jeder Buchhandlung bekommt. Von Autoren wie Michel Foucault, Noam Chomski, Elif Şafak etwa. Auch Menschen wie Asya Elmas, eine Transsexuelle, und Ayşe Tükrükçu, die zur Prostitution gezwungen wurde, berichten selten vor einer Videokamera, was sie mit Vertretern des Staates erlebt haben. Wenn die 15-Jährige Kiymet Encü spricht, deren Bruder bei einen Bombardement durch türkisches Militär in der Nähe des kurdischen Dorfes Roboski starb, dann glaubt man, die Worte würden in ihrem Mund explodieren.

So ist der Titel "Zero Tolerance" denn auch mit einem Ausrufungszeichen zu lesen und als Appell zu verstehen. Schließlich wollen die Interviewten dazu beitragen, Menschenrechtsverletzungen in der Türkei aus dem Schattenfeld zu holen und mit ihrer Sichtbarkeit zu einem Wandel betragen, wie es Skowronek, die in Istanbul lebt, formuliert hat. Der Ausstellung ist zu wünschen, dass sie noch andere Aufführungsorte findet.

© SZ vom 31.05.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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