Ausstellung:Wider das Vergessen

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In ihrer Ausstellung "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten" spürt die KünstlerinTanja Boukal dem Schicksal von Flüchtlingen nach und nutzt dazu traditionelle Handarbeitstechniken

Von Sabine Reithmaier

Zwiespältig sind die Gefühle, die Tanja Boukals Arbeiten auslösen. Aber das sollen ihre fast pedantisch genauen Stick- und Strickbilder wohl auch. Der spießig anmutenden Gobelin-Ästhetik widersprechen einzig die Motive: Die Wiener Künstlerin stickt keine Blumenmotive, hält auch nicht, wie Wandteppiche es manchmal tun, große historische Ereignisse fest. Ihre Werke muten eher wie aktuelle Geschichtsstunden an: Sie ergründen schonungslos den Alltag von Migranten.

Tanja Boukal, 1976 in Wien geboren, bereist seit vielen Jahren Krisengebiete, recherchiert vor Ort und bezieht die unmittelbar Betroffenen direkt in ihre Erkundungen mit ein. Sie ergründet Schicksale und gesellschaftspolitische Entwicklungen, egal ob auf dem Tahrir-Platz in Kairo oder in einem illegalen Lager in Calais in der Nähe des Eurotunnels oder eben in Melilla, der spanischen Enklave an der Nordküste Afrikas, wo sie 2014 und '15 mehrere Monate verbrachte. Boukals Arbeiten basieren auf Fotos, eigenen oder offiziellen Polizei- und Pressefotos. Wieder zurück in ihrem Wiener Atelier, bereitet sie die Aufnahmen mit alten Handarbeitstechniken auf: Stickend, strickend oder webend verfertigt sie Serien wie "Melilla tiene una Valla" (2014/15). Immer wieder versuchen afrikanische Flüchtlinge über Algerien und Marokko nach Melilla zu gelangen. Daher ist die Stadt inzwischen mit einem bis zu sechs Meter hohen und elf Kilometer langen Zaun, Bewegungsmeldern und Nachtsichtgeräten gegen illegale Einwanderer abgesichert. Boukal wanderte die Grenzbefestigung ab, fotografierte den Zaun und schuf daraus Kreuzstichidyllen, mit strahlend blauem Himmel, radelnden Menschen und Vögelschwärmen. Ganz normaler Alltag, würde sich nicht der mit Stacheldraht gekrönte Zaun dazwischenschieben.

"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten" - der Titel der Ausstellung im Augsburger Kunstverein zitiert eine Behauptung, zu der sich der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht in einer Pressekonferenz am 15. Juni 1961 verstieg. Zwei Monate später versperrte die Mauer auch das letzte Schlupfloch zwischen Ost- und Westdeutschland. Boukal wehrt sich in ihren Arbeiten Stich für Stich gegen geistige Trägheit und Gleichgültigkeit, strickt gegen das Vergessen an. Hüllt Flüchtlinge auf beiden Seiten der Grenze in ein handgestricktes Tuch, das überwiegend aus zwei Textstrophen von Schillers "Freude, schöner Götterfunken" besteht, und fotografiert sie dann. Beethovens Europahymne als Beleg dafür, dass es mit den hehren Idealen Europas nicht weit her ist - das machen die 44 als Fries links und rechts neben der Decke angeordneten Aufnahmen unmissverständlich klar.

Bereits aus dem Jahr 2008 stammt die Installation "Weit draußen", gefaltete Papierschiffchen, die wie ein Mobile von der Decke baumeln und beim leisesten Lufthauch anmutig schaukeln. An den Innenwänden der Boote finden sich kurze Texte, manchmal bloß drei Wörter, dann wieder ein Satz, allesamt entnommen aus Zeitungsartikeln, die im Dezember 2007 über im Mittelmeer verunglückte Boote und Opferzahlen berichteten.

Boukals jüngste Installation nennt sich "Ich weiß nicht, was ihr habt?" und sieht auf den ersten Blick ganz harmlos aus: ein für vier Personen gedeckter Esstisch, stilvoll in Schwarzweiß. Das Grauen packt einen erst beim Blick auf die Tischsets: Sie basieren auf Fotos toter Flüchtlingskinder, die das Meer in Samos ans Land gespült hat. Die eleganten Gläser und Teller sind fein mit Stacheldrahtmuster graviert. Selten hat ein Künstler die grassierende Unlust, sich immer weiter und immer wieder mit dem Schicksal von Flüchtlingen zu beschäftigen, besser auf den Punkt gebracht.

Tanja Boukal: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten" , bis 4. Juni, Di. bis Do. 11 bis 17 Uhr, Kunstverein Augsburg im Holbeinhaus. Diskussionsabend mit Tanja Boukal, 12. Mai, 19 Uhr

© SZ vom 10.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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