Ausstellung:Mond. Sonne. Nabel. Mund. Kuss

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Zero, die zukunftssüchtige Kunstbewegung der Nachkriegszeit, ist wieder da. In Berlin ist zu sehen, wie Heinz Mack, Otto Piene, Günther Uecker einst mit flirrender Technik und viel Optimismus überwältigten.

Von Kia Vahland

Wenn Zeitzeugen von den westdeutschen Fünfziger- und Sechzigerjahren sprechen, klingt das manchmal nicht lustig. Die ganzen Anstandsregeln, die Studentenzimmer ohne Damenbesuch. Die verdrucksten Eltern, die ihre NS-Erlebnisse verschwiegen. Glaubt man manch einem Achtundsechziger, so war das bundesdeutsche Leben vor der Studentenrevolte trostlos.

Auf alten Fotos sehen die Künstler Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker aus wie viele ihrer Zeitgenossen um 1960: In Anzug und Krawatte halten sie adrett ihre Werke in die Kamera, die viel moderner wirken als sie selbst. So ist es ja bei jedem Aufbruch: Diejenigen, die alles Bestehende ändern wollen, sind immer geprägt von dem, was war und noch ist. Es sind die Normen der Vergangenheit, die sie abschütteln wollen, und das ist aus ihrer Perspektive nur als Negation denkbar. Der Gegenentwurf dieser damals jungen Künstler gegen eine als unbeweglich und steif empfundene Nachkriegsgesellschaft lautete: Zero. Das erinnert an Amerika, an Raketenstarts. Alles wird auf null gestellt. Wir fangen noch einmal von vorne an.

Zumindest die Künstlergruppe und ihre Fans hatten in dem Jahrzehnt von 1957 an viel Spaß. Ihr Optimismus ist noch heute ansteckend, wie nun ein internationales Forschungsprojekt und eine Ausstellung zeigen, die gerade im Berliner Martin-Gropius-Bau gastieren. Es flimmert, blitzt und leuchtet, raschelt und rauscht. Watte, Metallstäbe, auch Feuer und Wasser sind zugegen, um das große Zusammenspiel von Mensch, Technik und Natur zu zelebrieren. Das galt damals noch nicht als Widerspruch. Es klang unschuldig und hoffnungsfroh, wenn der amerikanische Präsident John F. Kennedy im Jahr 1961 versprach: "Gemeinsam wollen wir die Sterne erkunden, die Wüsten erobern."

Vielleicht ist es dieser noch so ungetrübte Entdeckergeist, ohne jedes schlechte Gewissen, der die Leute heute begeistert. Jahrzehntelang waren die Werke der Gruppe nur noch in regionalen Museen zu sehen, jetzt aber werden ihre Protagonisten in großen Häusern geehrt, und Heinz Mack darf nun eine riesige hängende Scheibe mit sonnenfinsternisartigem Lichtspiel von der Decke des Innenhofes im Gropiusbau herabbaumeln lassen. Sie sieht aus wie ein neues Werk des 36 Jahre jüngeren Olafur Eliasson, nur nicht ganz so auf der Höhe der Elektronik. Beide Generationen setzen auf Überwältigung durch Technik, die im großen Maßstab Natur simuliert.

All die alten Glühlämpchen, im Takt drehenden Gebilde und im künstlichen Wind flatternden Fäden in der Schau: Sie lassen etwas ahnen von dem sinnenfrohen Zauber, den die Zero-Künstler in den Sechzigerjahren auf Ausstellungsbesucher, Kritiker, Museumsleute ausübten. Sie luden zu Abendausstellungen, die dann gleich in die Party übergingen. Ließen Luftballons und größere, drachenartig leichte Gebilde in den Himmel aufsteigen, wedelten mit Aluminiumfahnen, malten eine "weiße Zone Zero" auf die Straße.

Die jungen Männer wollten sich nicht auf die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts beziehen. Und gaben dann doch eine Zeitschrift mit dem Titel Zero heraus - was mit demselben Namen schon der russische Künstler Kasimir Malewitsch geplant hatte, der vier Jahrzehnte zuvor auch komplett neu beginnen wollte. Und das Manifest der Zero-Künstler erinnert in seiner Poesie an die große Zeit des Dada: "Zero ist die Stille. Zero ist der Anfang. Zero ist rund. Zero dreht sich. Zero ist der Mond. Zero ist die Sonne. (...) Zero fließt. Das Auge Zero. Nabel. Mund. Kuss."

Der Neuanfang war nur eine Illusion, aber eine schöne. Die Ähnlichkeit von Zero zu manchen früheren Protestbewegungen in der Kunst liegt daran, dass sie den gleichen Gegner hatten: das auf Selbstausdruck versessene Individuum, den kommunikationsunfähigen Künstler, der nur Nabelschau betreibt und Kollegen als Konkurrenz begreift. Alle, die so tun, als würden sie mit dem Pinsel auf der Leinwand in ihrem Inneren rühren.

Es war eine Art Versachlichung des Romantischen, die die Zero-Künstler anstrebten. Sie versuchten, wie es Otto Piene ausdrückt, "die friedliche Eroberung der Seele durch Sensibilisierung". Sensibilisiert werden sollen weniger die Herzen als vielmehr die Sinne: das Auge, das Licht und Bewegung wahrnimmt, die Haut, die Luftstöße spürt, das Ohr, das Meeresrauschen identifiziert, auch wenn es nur künstlich ist.

Nur wussten die Künstler von der ersehnten Zukunft so wenig wie die meisten anderen Zeitgenossen auch. Es ist anrührend, bleibt aber doch recht diffus, wenn Piene schreibt: "Ja, ich wünsche mir eine weitere Welt. Soll ich mir eine engere wünschen?" So blieb Zero im Allgemeinen und damit pure Gegenwart. Und war so offen für Interpretationen, dass sein Weltraumlook und seine Wüstenlichtvisionen, das ganze blendende Silber und die blinkenden Leuchten bald Raumausstatter und Werbestrategen inspirierten. Zero hat die Jahre seiner musealen Vergessenheit überlebt im Design, in den Bühnenauftritten von Popstars und im Lampengeschäft.

Die Werke erfuhren derweil auch eine Anverwandlung von nachkommenden Künstlern. Schon der nur rund ein Jahrzehnt jüngere James Turrell weitet die Lichtwolken Zeros aus, später steigert Eliasson diese Effekte zum Massenspektakel. Diese Künstler aber halten es wie einst Mack, Piene und Co.: Sie negieren ihre geistigen Väter und meinen, praktisch bei null begonnen zu haben. So lebte Zero unerkannt in ihren Werken weiter.

Es ist ein Verdienst der Schau, ganz bei den Ausgangswerken zu bleiben und diese aus historischem Abstand erfahrbar zu machen, auch in ihren Unterschieden. Uecker zaudert mit der Plastikwelt; seine weiß übertünchten Metall-Igel erden die Bewegung, führen sie spielerisch auf uraltes Handwerk zurück. Seine Großinstallation "Kosmische Vision" besteht aus drehenden, leuchtenden Scheiben, in denen sich das Licht unregelmäßig bricht, weil sie mit handelsüblichen Nägeln bestickt sind. Den luftigen Gegenpol bilden Heinz Macks Windmaschinen, seine scheppernden Lamellenreliefs und durchsichtigen Leucht-stelen, denen man zutraut, es bis ins All zu schaffen im Versuch, den Reiz von Farben durch Licht und Bewegung zu ersetzen.

Vieles erinnert an die frühe Moderne. Der Neuanfang ist nur eine Illusion. Aber eine schöne

Der - kürzlich verstorbene - Piene erscheint wie besessen von Gestirnen, die er nicht nur in Kugellampen, sondern auch in Malerei überführt: Schwarz trifft Weiß, die Nacht den Tag, und Kasimir Malewitschs "Schwarzes Quadrat" den White Cube.

Über den Umweg des Suprematismus lassen sich auch Yves Kleins bunte Farbtafeln assoziieren, die eine Wand füllen - und bei aller Verfremdung dann doch ohne die Malereitradition nicht denkbar wären. Noch direkter arbeitet sich Lucio Fontana mit seinen aufgeschlitzten Leinwänden an der älteren Kunst ab: Zero hat hier anderthalb Jahrtausende im Gepäck. Wiederzuentdecken sind derweil weniger bekannte Künstler: Pol Bury lässt Haariges aus Farbtafeln wachsen, Henk Peeters wendet sich mit seinen wuscheligen "Flockenbildern" gleich an den Tastsinn. Zero ist so vielfältig, es könnte selbst ohne altmodische Weltraumträume überleben.

Z ero . Martin-Gropius Bau in Berlin, bis 8. Juni, www.gropiusbau.de

© SZ vom 31.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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