Ausstellung:Flugblätter und Hasenöhrl

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"Original! Pracht und Vielfalt aus den Staatlichen Archiven Bayerns" im Hauptstaatsarchiv ist eine wahre Fundgrube für Besucher, die viel über das Land erfahren wollen

Von Hans Kratzer

Am 12. Oktober 1943 ist in München Willi Graf hingerichtet worden, er war Mitglied der Widerstandsgruppe Weiße Rose. Wenige Stunden vorher schrieb der Medizinstudent aus dem Strafgefängnis Stadelheim einen letzten Brief an seine Familie: ". . . an diesem Tag werde ich aus dem Leben scheiden und in die Ewigkeit gehen." Die auf einem Gefängnisformular geschriebenen Zeilen sind ein überragendes Zeugnis menschlicher Größe. Aus ihnen spricht Grafs Überzeugung, richtig gehandelt zu haben, außerdem belegt der Text die unglaubliche Gefasstheit Grafs im Angesicht des bevorstehenden Todes. Statt zu verzagen, tröstete er seine Angehörigen und appellierte an sie: "Stehet in Liebe und Vertrauen zueinander!"

Dieses bemerkenswerte Dokument ist im Nachlass von Willi Graf enthalten, den das Bayerische Hauptstaatsarchiv verwahrt. Zurzeit ist der Brief in einer soeben eröffneten Ausstellung der Staatlichen Archive Bayerns zu sehen, in der erstmals besonders wertvolle Stücke aus allen neun Staatsarchiven gezeigt werden. Zu sehen sind Urkunden, Amtsbücher, Akten, Karten, Pläne, Plakate und Flugblätter, zudem Fotos, Ton- und Videoaufnahmen und nicht zuletzt auch digitale Informationen. Dieses breite Angebot bildet gleichsam die Essenz der Überlieferung aus der 1200-jährigen bayerischen Geschichte. Bei der Eröffnung der Ausstellung betonte Wissenschaftsminister Ludwig Spaenle, dass der Erhalt und der Schutz dieser solitären kulturellen Schätze dem Freistaat ein großes Anliegen sei. Die vom Minister wortreich hervorgehobene Bedeutung der Archive kommt auch im Ausstellungstitel zum Ausdruck: "Original! Pracht und Vielfalt aus den Staatlichen Archiven Bayerns".

Derzeit verwahren die Staatlichen Archive Bayerns gut 46 Millionen Archivalien. Die zeitliche Dimension der Überlieferung erstreckt sich vom frühmittelalterlichen Jahr 777 bis zur Gegenwart. Die in der Ausstellung im Münchner Hauptstaatsarchiv präsentierten 126 Exponate sind also nur ein winziger Bruchteil dieses unermesslichen Schatzes. Aber sie repräsentieren sämtliche Regionen Bayerns und alle Epochen nach der Antike, außerdem enthalten die Archivalien ganz unterschiedliche Themen. Ihre Besonderheit beziehen die Exponate entweder aus ihrer Einzigartigkeit oder aus ihrer politischen Bedeutung.

Eine der ausgestellten Urkunden versetzt den Betrachter unmittelbar in die Zeit Kaiser Karls des Großen. Dieser unterzeichnete dieses sehr gut erhaltene pergamentene Schriftstück am 7. August 807 für den Bischof Egilwart von Würzburg. Inhaltlich geht es dabei um einen Tauschhandel, den Egilwart mit dem Grafen Audulf vereinbart hatte. Beide Parteien baten den Kaiser um eine Bestätigung des Rechtsgeschäfts, das damit in Zeiten ohne Grundgesetz und Bürgerliches Gesetzbuch eine größere Rechtsverbindlichkeit erhalten sollte. Auffällig ist das Wachssiegel Karls, das im Profil einen Männerkopf zeigt. Das ist aber nicht der Kaiser, sondern das Abbild eines römischen Herrschers, womit Karl eine Kontinuität von der römischen Antike bis zu seinem Kaisertum schaffen wollte.

Eine Fundgrube früher Siedlungsnamen in Altbayern ist eine 824 angelegte Freisinger Handschrift. Der sogenannte Cozroh-Codex enthält die früheste Urkundenüberlieferung des Bistums Freising. Viele Orte im südlichen Bayern sind dort erstmals schriftlich genannt, zum Beispiel Pasing. Unter anderem erlaubt der Codex eine genaue Datierung der Gründung des Klosters Scharnitz (29. Juni 763), wenngleich offen bleibt, wo dieses Kloster genau lag. Ganz anders geartet ist das alte Kuchlbuch der Benediktinerabtei Seeon aus dem Jahr 1531, das dem Betrachter spannende Einblicke in die damalige Kochkultur erlaubt. Fleisch kam demnach selten auf den Tisch, dafür wurde oft saure Gerstensuppe serviert. Immerhin kannte der Speiseplan bereits die heute in der bayerischen Küche noch üblichen Hasenöhrl.

Überhaupt ziehen einen viele der ausgewählten Dokumente sofort in den Bann. Etwa die Abdankungserklärung, die König Ludwig I. nach der Lola-Montez-Affäre am 20. März 1848 eigenhändig verfasst hat. Oder der amtliche Eintrag für den am 4. März 1916 in Frankreich gefallenen Maler Franz Marc in der Verlustkartei des bayerischen Kriegsministeriums. Berührend auch das gescheiterte Gesuch des Dichters Ödön von Horvath um Einbürgerung in Bayern vom 7. April 1927. Mehr Erfolg hatte dagegen das Auswanderungsgesuch der Familie des späteren US-Außenministers Henry Kissinger aus Fürth im Jahr 1938.

Stundenlang verharren könnte man allein vor den alten Karten und Plänen, auf denen wie in einer Art Kino die frühere Welt vorüberzieht. Nicht zuletzt, weil auf den großflächigen Objekten auch Alltagsszenen festgehalten sind. Wahlplakate und Flugblätter sowie Werbeplakate lassen die flackernde Nervosität der Weimarer Republik erahnen. Wie gut tut da ein Abstecher in die private Welt der Royals und des Adels, dargeboten in dem in Coburg verwahrten Fotoalbum, das zur Hochzeit von Prinzessin Victoria Melita von Sachsen-Coburg und Großherzog Ernst Ludwig von Hessen im April 1894 angefertigt wurde. Angereist war auch Queen Victoria, die Großmutter der Braut und des Bräutigams. Das Foto, das sie bei der Ausfahrt mit der Maultierkutsche zeigt, darf man bei aller Distanz als allerliebst bezeichnen. Wer sich auch nur im Entferntesten für die Geschichte des Landes Bayern interessiert, wird an dieser Ausstellung seine helle Freude haben. Sie berührt den Kern dessen, was Bayern im Innersten ausmacht und was seine lange staatliche Kontinuität berührt. Umso bedeutender sind die Zeugnisse dieses Selbstverständnisses, im Guten wie im Schlechten. Es wäre kein Fehler, Schulklassen in Scharen in diese Schau hineinzuführen, denn dort können junge Menschen viel von dem erfahren, was ihnen die abgespeckten Lehrpläne vorenthalten.

Wer seine Wurzeln nicht kennt, wird die Gegenwart nie begreifen, heißt es in vielen Sonntagsreden. Diese Ausstellung ist ein probates Mittel, sich den Wurzeln jenes Gemeinwesens, in dem die Bayern sich bewegen, begreifend anzunähern.

Original! Pracht und Vielfalt aus den Staatlichen Archiven Bayerns . Eine Ausstellung im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Schönfeldstraße 5, München; bis 5. Dezember, Sonntag-Freitag 10-18 Uhr, geschlossen 31. Okt. und 1. Nov.; Führungen jeden Dienstag (jeweils 17 Uhr, Telefon 089/28638-2575). Dazu gibt es auch einen 400-seitigen Katalog

© SZ vom 12.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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