Ausstellung:Farben erfahrbar machen

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Carlos Cruz-Diez ist ein Meister darin, Sehgewohnheiten durch optische Effekte zu hinterfragen. Eine Retrospektive in Ingolstadt widmet sich dem Werk des venezolanischen Op-Art-Künstlers

Von Sabine Reithmaier

Eigentlich sieht der Übergang auf der Ingolstädter Tränktorstraße aus wie ein lustiger pink-grün-gelb eingefärbter Zebrastreifen. Wäre da nicht daneben das warnende Schild: "Achtung, Kunst! Fußgänger haben keinen Vorrang." Also doch kein Zebrastreifen. Zum Glück reagieren die meisten Autofahrer trotzdem auf die bunte Abweichung vom Gewohnten, so dass bisher alle Fußgänger das Museum für Konkrete Kunst unbeschadet erreicht haben. Die Farben auf der Straße sind auch nur ein kleiner Vorgeschmack auf die fröhliche, noch ganz andere Barrieren überspringende Kunst, die sie im Haus erwartet. Denn Carlos Cruz-Diez ist ein Meister darin, Sehgewohnheiten durch optische Effekte zu hinterfragen.

Die Ausstellung ist die erste Retrospektive, die dem Meister der Op-Art in Deutschland seit 1998 gewidmet wird. Obwohl er inzwischen bereits 94 Jahre alt ist, hat der venezolanische Künstler für Ingolstadt einige Werke aktualisiert, andere neu geschaffen wie etwa eine drei Meter hohe temporäre Wandarbeit. Amüsant auch ein transparentes Farblabyrinth aus länglichen, bunt eingefärbten Polycarbonat-Streifen, die von der Decke hängend über dem Fußboden schweben. Je mehr Streifen hintereinander hängen, desto mehr Licht absorbieren sie, je nach Blickwinkel und Position verändert sich der Farbeindruck. In einem gestreiften Lichtraum wird schließlich der Betrachter selbst Teil der Installation, beteiligt sich automatisch mit am künstlerischen Prozess. Das ist genau das, was Cruz-Diez will: Strukturen schaffen für Erlebnisse, die Farbphänomene erfahrbar machen.

Experimentieren mit Form und Farbe: "Irradación del color" schuf Carlos Cruz-Diez 1959. (Foto: Courtesy of Atelier Cruz-Diez Paris, Adagp, Paris 2017, VG-Bildkunst, Bonn 2018)

Doch von Anfang an: Carlos Cruz-Diez wurde 1923 in Caracas geboren. Sein Vater betrieb eine Soda-Fabrik. Der Sohn saß gern vor den in einem Fenster stehenden Flaschen, fasziniert von den farbigen Reflexionen, die sich entwickelten, wenn Licht auf das Glas fiel. Noch ein zweites Kindheitserlebnis bezeichnet er als prägend: Sein Lieblingsspielzeug waren nämlich Lenkdrachen, deren farbige Transparenz in der Luft er nie müde wurde zu beobachten. Früh begann er daher, die Wirkung von Farben durch Bewegung und Licht zu untersuchen, optische Wahrnehmungsphänomene zu hinterfragen. Was er übrigens ebenfalls unterstreicht: Seine Arbeiten entstehen nicht aus einem Gefühl heraus, sondern folgen klar strukturierten Methoden und Experimenten, die sich in zahlreichen Werkgruppen und Serien niederschlugen. Daran denkt man aber nicht, während man an den Reliefs aus farbigen Lamellen entlang schreitet, die im Augenblick des Vorbeigehens ihre Farbe komplett zu wechseln scheinen. Oder man an den Wänden Farben sieht, die in Wirklichkeit nicht da sind, sondern nur von unserem Gehirn dazu gezaubert werden.

Cruz-Diez selbst bezeichnet sich als Farbforscher, nie als Künstler. Zu dieser Haltung passt es, dass er seit vielen Jahren in seinem Atelier mit einem großen Team arbeitet. Bevor er sich übrigens der freien Kunst zuwandte, verdiente er in Venezuela als Illustrator und Werbefachmann sein Geld. 1965 nahm er neben Josef Albers, Victor Vasarely und Jesús Rafael Soto an der Ausstellung "The Responsive Eye" des New Yorker MoMA teil. Dort wurde der Begriff der Op-Art erst geprägt.

Carlos Cruz-Diez: "El Muro negro", 1957, Öl. (Foto: Courtesy of Atelier Cruz-Diez Paris, Adagp, Paris 2017, VG-Bildkunst, Bonn 2018)

In den Anfängen der optischen Kunst schnitt und klebte er noch, wie frühe Arbeiten in der Ausstellung anschaulich vor Augen führen. Heute entsteht alles am Computer. Was aber nicht bedeutet, dass es einfach ist. Im Museum steht ein Rechner, an dem jeder versuchen kann, seine Op-Art selbst zu gestalten. Poetisch perfekt gelingt das so leicht nicht.

Fußgängerüberwege sind übrigens Orte, denen Cruz-Diez stets besondere Aufmerksamkeit schenkte und in die er schon häufig gestaltend eingriff. Für ihn zählen sie zu den Orten des Transits, wie natürlich auch Flughäfen. Berühmt seine Bodenarbeit "Couleur Additive" (1974) am Flughafen von Venezuela, lauter ineinander verzahnte Farbstreifen, die auch die Rückwand der Haupthalle noch mit einbeziehen. Eine heitere Erinnerung an Zeiten, als es Venezuela noch deutlich besser ging als heute.

Carlos Cruz-Diez: Color in Motion , noch bis 16. September, Museum für Konkrete Kunst Ingolstadt, Tränktorstraße 6-8

© SZ vom 24.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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