Ausstellung:Blicke über die Zeiten hinweg

Lesezeit: 2 min

Die Zeppelinwiese bekam ihren Namen mit der Landung von Graf von Zeppelin 1909 und wurde als Zeppelinfeld zum Aufmarschgelände der Nazis. (Foto: Stadtarchiv Nürnberg)

Die Nürnberger Fotoausstellung "Facetten einer Stadt"

Von Florian Welle, Nürnberg

Scheue, flüchtige Blicke, die zu fragen scheinen: Was macht der Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite da, fotografiert er? Was im Zeitalter von Smartphone und Selfie selbstverständlich ist, weckte vor etwa 100 Jahren die Neugier der Menschen. Wandert man durch die sehenswerte Ausstellung "Facetten einer Stadt - Nürnberg in Fotografien 1900 bis 1918", springt einem auf vielen Bildern dieses Haschen nach dem Fotografen ins Auge. Vor allem Jungs scheinen sich von der Kamera magisch angezogen zu fühlen. Da ist einer, der auf dem Hauptmarkt an den Marktständen vorbeischlendert und unter seiner Kopfbedeckung hervorlugt. Ein anderer in dunkler Kleidung quert die Straße zum Central-Theater, einem der ersten Kinos in Nürnberg. Man ist geneigt, in ihm einen ebenso leidenschaftlichen Kinogänger zu sehen wie in dem jungen Kafka. Die Fotografie stammt von 1913.

Seit gut 15 Jahren findet immer im Sommer die Ausstellung des Nürnberger Stadtarchivs im Handwerkerhof in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs statt. Diesmal hat man sich für Fotografien entschieden, die einst das Hochbauamt in Auftrag gab, um den städtebaulichen Wandel der Stadt an der Wende zum 20. Jahrhundert zu dokumentieren. Die Moderne hält Einzug in Mittelfranken, neue Orte der Unterhaltung, wie das genannte Lichtbild-Theater, entstehen. Aber auch das Theater selbst erobert sich seinen Platz: 1905 entsteht am Ring das Neue Stadttheater; mit seinen gewaltigen Dimensionen ist das heutige Opernhaus damals europaweit einer der teuersten Theaterneubauten. Und 1909 landet der Zeppelin im Südosten der Stadt: Die Menge strömt zusammen, um das aeronautische Ungetüm zu bestaunen. Nur ein Junge am äußersten rechten Bildrand interessiert sich weniger für den Zeppelin, sondern wiederum vor allem für den Fotografen. Mit dem Rücken zum Luftschiff blickt er frontal in die Kamera. So schaut er uns heute noch ins Gesicht, über die Zeiten hinweg. Nürnberg wächst in jenen Jahren rasant. Die Urbanisierung schreitet voran, und mit ihr verändert sich die Infrastruktur.

Schulen fordern ihren Platz, so furchteinflößend monumental wie Trutzburgen. Mütterberatungsstellen werden ins Leben gerufen, um die Gesundheitsvorsorge für die Kleinen zu verbessern. Und das neue Volksbad erzieht die Bevölkerung zur Hygiene - zu seiner Einweihung gibt sich Prinzregent Ludwig, der spätere König Ludwig III., die Ehre. Überall entsteht Neues, verschwindet Altes. Das im Osten der Stadt gelegene Handwerkerviertel Wöhrd zeigt noch ländliches Leben, hingeduckte Häuschen, Fachwerk, Bauernhöfe. Ein paar Kilometer weiter am Plärrer herrscht städtischer Trubel, schon damals ein Verkehrsknotenpunkt. Die Fassaden der Häuser ringsum dienen als Werbeflächen, ein Hermann Kühling wirbt großspurig für sich als "American Dentist".

Der Erste Weltkrieg hinterlässt auch in Nürnberg seine Spuren. 1915 besucht Kaiser Wilhelm II. die Stadt, die Menge jubelt. Noch! Der Fotograf hat just den Moment abgepasst, in dem er mit seinem Automobil die "Wirtschaft zum deutschen Kaiser" passiert. Nur zwei Jahre später hat dann der Hunger die Nürnberger ebenso wie den Rest des Landes fest im Griff. Eine Fotografie zeigt eine Massenspeisung im Hercules-Velodrom. Man hat den großen Saalbau samt Orgel zur Kriegsvolksküche umfunktioniert, zuvor diente er als Radbahn im Winter. Doch die Zeiten des Vergnügens sind vorbei. Ein anderes Bild gewährt Einblick in eine Sammelstelle für Altmetall, das zur Waffenproduktion diente. "Wir wissen", schrieb Wilhelm Genazino in seinem Fotografie-Essay "Der gedehnte Blick", "dass wir die Dinge mit Bedeutungen anschauen, an denen die Dinge schuldlos sind. Wir können nicht schauen ohne den Drang nach Bedeutung."

Facetten einer Stadt - Nürnberg in Fotografien 1900 bis 1918 , Nürnberg, Handwerkerhof, noch bis 17. Sep., Mo.-Fr. 10-18, Sa. 10-16 Uhr, Eintritt frei

© SZ vom 23.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: