Armenien im Kino:Die vierzig Filme des Musa Dagh

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Rückblenden ins Trauma: Schon seit 1919 wurde das Schicksal der Armenier zu einem eigenen Sujet für das Kino.

Von Amin Fasanefar

Nachdem die 14 Jahre alte Aurora Mardiganian die Ermordung ihrer Familie und danach einen Todesmarsch von 1400 Meilen in die Syrische Wüste überlebt hatte, gelang ihr mithilfe amerikanischer Missionare die Flucht nach New York. 1919 spielt sie selber die Hauptrolle in der Verfilmung ihrer ein Jahr zuvor publizierten Lebensgeschichte: Oscar Apfels "Ravished Armenia / Auction of Souls", von dem noch 24 Minuten erhalten sind, wird zum ersten Spielfilm über den Genozid an den Armeniern. Seither bemüht sich das Kino, vom Ende armenischer Zivilisation in Anatolien und der Westtürkei zu erzählen, von Vernichtung, Vertreibung, Verlust. Die Versuche sind so vielfältig wie die Länder, in denen die Armenier im Zuge der Katastrophe Zuflucht fanden, sie sind erschwert durch den Umstand, in der Fremde eine Sprache zu finden - und durch die Bemühungen der Türkei, jeden Film zu diesem Thema zu verhindern. Legendär ist die Vereitelung einer Adaption von Franz Werfels Schlüsselroman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" - die Liste interessierter Regisseure reicht seit 1934 von Rouben Mamoulian bis hin zu Mel Gibson und Sylvester Stallone.

Dabei kennt die Filmgeschichte durchaus überzeugende Beiträge: Henri Verneuil, Meister des französischen Gangsterfilms, im türkischen Tekirdağ geboren, verarbeitet in "Mayrig - Heimat in der Fremde" 1991 die Geschichte seiner Familie: Die einst wohlhabenden Zakarians müssen im französischen Exil von vorne anfangen, der Sohn Azad entdeckt seine Liebe zum Film. Auch durch die Besetzung mit Omar Sharif und Claudia Cardinale wurde "Mayrig" ein Publikumserfolg. Andere französische Filmemacher wie Robert Kechichian ("Aram"), Robert Guédiguian ("L'Armée du Crime", "Une Histoire de Fou") kehren immer wieder zu ihren armenischen Ursprüngen zurück, thematisieren etwa die Asala, eine Terrororganisation, die von 1975 bis Mitte der 1990er mit der Ermordung Dutzender türkischer Diplomaten die internationale Anerkennung des Völkermordes erpressen wollte ("L'Armée Secrète Arménienne", 2015).

So legendär wie die Filme sind auch die Versuche der Türkei, solche Filme zu vereiteln

Das andere große Ziel der Davongekommenen war Amerika, Fluchtpunkt auch in "Die Unbezwingbaren" von Elia Kazan. Der in Konstantinopel geborene Grieche verbindet Elemente der eigenen Biografie und der Lebensgeschichte seines Onkels zu einem Auswandererdrama. Und nicht alles bleibt zurück: Psychische Langzeitschäden von Völkermord, Flucht und Entwurzelung prägen Atom Egoyans oft verstörendes Œuvre. Seine Protagonisten werden von Zwangshandlungen heimgesucht, quälende Erinnerungsfragmente zeugen von einer nie ganz gelingenden Bewältigung der Gewalterfahrungen. Sind die Familiengeschichte und der Genozid schon im Frühwerk des Kanadiers latent vorhanden, so thematisiert "Ararat" (2002) erstmals direkt den Völkermord. Der Film wurde massiv angefeindet und konnte auf dem Istanbul-Film-Festival nur nach heftigen Protesten gezeigt werden. Dabei ist er eine der gelungensten Annäherungen, gerade weil er als Film-im-Film von der Vergeblichkeit handelt, Bilder für das Unfassbare zu finden. Die Darstellung der Massaker will dem von Charles Aznavour dargestellten Regisseur Saroyan nicht gelingen, das Vergangene bleibt uneinholbar. Der eigentliche Konflikt ereignet sich im Hier und Jetzt der Dreharbeiten: Armenier treffen auf Armenier verschiedener Herkünfte und Generationen - und auf Türken.

Dieses Verfehlen des Eigentlichen kann, neben den Verleumdungskampagnen, auch erklären, warum der maßgebliche Spielfilm über den Völkermord bislang ausgeblieben ist und vielversprechende Versuche scheiterten, Fatih Akins ambitionierter "The Cut" etwa, oder "Das Haus der Lerchen" der Taviani-Brüder. Der erste Film schickte einen traumatisierten stummen Helden allein in die Welt, ohne Konflikt oder Kameraden, ohne Feind. Umgekehrt ertrank der zweite in der allzu orientalistischen Unschulds-Ikonografie blonder Armenierinnen, die von barbarischen Türken niedergemacht werden.

Interessanter sind da häufig die kleineren Erzählungen vom Überleben: Aramazt Kalayjians Doku-Projekt "Tezeta" (2014) behandelt die erstaunliche Geschichte jener vierzig armenischen Waisen, die Haile Selassi adoptierte - Chorknaben, die die Musikkultur Äthiopiens beeinflussen sollten. Und in Egoyans Neunminüter "Yerevan - The Visible" (2011) erzählt Leon Cakeff, Gründer des São-Paulo-Filmfestivals, die eigene Familiensaga und erinnert an die in Lateinamerika ansässige Community. Weitere Filme entstehen regelmäßig in Iran, Schweden, den Niederlanden, in Libanon. In Deutschland legte Ralph Giordano 1986 mit der Fernsehreportage "Die armenische Frage existiert nicht mehr" den Finger in die historische Wunde und sorgte für Interventionen des türkischen Botschafters, Proteste nationalistischer Türken und Morddrohungen; der Film landete längere Zeit im Giftschrank des WDR.

Dieses vielstimmige Kino fand 2004 mit dem "Golden Apricot Yerevan International Film Festival" einen konkreten Ort. Mit Vorgeschichte: In der Sowjetrepublik Armenien kam es nach einem langen Schweigen unter Stalin zu einer Reihe von Filmen zum Völkermord; geprägt von einem konzentrierten lakonischen Stil handelten sie häufig von Verlust, Heimkehr, verblassenden Erinnerungen. Nerses Hovanessians Schwarz-Weiß-Kurzfilm "Meeting at an Exhibition" von 1968 fasst viele Tonlagen zusammen: Auf einer Ausstellung stößt der Taxifahrer Arutyun zufällig auf das Gemälde eines Waisenkindes, das ihn an seinen 1918 verschollenen Bruder erinnert. Er sucht den Kontakt zum Maler, und bald sind alle Beteiligten in einem Ringen um die Wahrheit, zwischen Anekdoten, Erinnerungen und Wünschen gefangen. In Henryk Malyans Spielfilm "Nahapet" (1977) wird ein Bauer von traumatischen Erinnerungen an den Genozid heimgesucht. Die Dorfbevölkerung nimmt Anteil, doch erst, als Nahapet auf eine Leidensgenossin trifft, kann er am Aufbau des sowjetischen Armenien teilnehmen.

Gemeinsame Dreharbeiten werden zum Erstkontakt mit dem "Feind"

Eine dritte Gruppe hat einen besonders schweren Stand: die Armenier der Türkei. Dennoch hat auch dort im letzten Jahrzehnt eine Auseinandersetzung begonnen, die auf das Kino abfärbt: Die "Armenia Turkey Cinema Platform" ("ATCP") bringt seit 2008 Filmschaffende beider Länder zusammen. Die gemeinsamen Dreharbeiten sind oft die erste Begegnung mit dem "Feind". Viele der von der ATCP mitproduzierten Filme spiegeln dabei eine weltweite Tendenz wider: eine Reise zu den Ursprüngen, in das Land der Vorfahren. Diese Selbstvergewisserung entspricht dem Ablauf einer transgenerativen Traumabewältigung. Auf das Schweigen der innerlich erstarrten Überlebenden folgt die unauffällige Aufbauarbeit der Söhne und Töchter. Erst die dritte und vierte Generation befragt die Überlebenden und die Archive, und erst hier beginnt die gegenwärtig zu beobachtende Spurensuche, die zurück zu Konzentrationslagern, Waisenhäusern, Bordellen mit Zwangsprostitution reicht oder zu den Knochen von Deir ez-Zor in der Syrischen Wüste, wo die Deportationsrouten endeten und teilweise letzte Massaker unter den Verdurstenden stattfanden.

Auf der anderen Seite stehen überlieferte Erinnerungen an ein verloren gegangenes Paradies im Osmanischen Reich: In Nigol Bezjians ATCP-Produktion "I left my shoes in Istanbul" (2012) reist ein libanesisch-armenischer Dichter in die Stadt seiner Vorfahren, besucht die alten, einst von Armeniern bevölkerten Straßen, alte Friedhöfe, Kirchen und auch Schulen. Trost findet sich im geselligen Essen mit Armeniern und Türken, im Austausch von Geschichten, Meinungen und im gemeinsamen Gelächter.

Naturgemäß durchzieht diese Filmgeschichte eine große Melancholie und Nostalgie - die Heimat unwiderruflich verloren, das Leben Hunderttausender ausgelöscht - in der Zeit, aber auch im historischen Gedächtnis der Welt. Das Medium Film kommt hier zu seiner ureigensten Bestimmung: dem Ankämpfen gegen das Vergessen.

© SZ vom 16.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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