Argentinische Literatur:Augen ohne Wimpern

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Samanta Schweblin: Das Gift. Roman. Aus dem Spanischen von Marianne Gareis. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 127 Seiten, 16,95 Euro. E-Book 14,99 Euro. (Foto: N/A)

In ihrem neuen Roman "Das Gift" schickt die argentinische Autorin Samanta Schweblin zwei Frauen und ihre Kinder ins Zwischenreich von Alltag und Aberglauben - der Schrecken kommt auf leisen Sohlen.

Von Ralph Hammerthaler

Ob sie den Geruch im Wasser auch wahrgenommen habe, wird Amanda gefragt, kaum dass sie eingezogen ist. Aber dazu kann sie nichts sagen. Alles ist neu für sie und ihre Tochter Nina. Woher soll sie wissen, ob das Wasser anders riecht als gewöhnlich? Und ob sie deshalb beunruhigt sein müsste? Die Frage hat die Nachbarin gestellt, Carla, eine gut aussehende Frau mit rotem Dutt und in Jeans-Latzhose, etwa zehn Jahre älter als Amanda. Später zeigt sie sich gern in einem goldfarbenen Bikini, immer anmutig in ihren Bewegungen.

Der Hinweis auf das sonderbar riechende Wasser steht erst im letzten Fünftel des Romans, wie überhaupt die Bedrohung durch ein namenloses Gift erst nach und nach wirksam wird. Mit dieser schleichenden Erzählweise hebt sich Samanta Schweblin, 1978 in Buenos Aires geboren, von der apokalyptischen Literatur ab, auch von der ihres Landsmanns Guillermo Saccomanno, der in seinem jüngsten Roman "Der Angestellte" ein brutales Katastrophen-Szenario entfaltet. Schweblins Roman "Das Gift" dagegen ist leise und rätselhaft, doch hinterrücks gefährlich. Und er kommt fast ohne Geraune aus. Erst im letzten Satz wird "das Unheil" erwähnt, "das jeden Augenblick losbricht".

Dabei ist das Gift vom ersten Satz an gegenwärtig. Nur weiß man nicht, dass es damit schon gemeint ist. Ebenso wenig weiß man zunächst, wer hier mit wem spricht und unter welchen Umständen. Der Dialog erstreckt sich über den gesamten Roman, und er treibt die Geschichte voran, aus der Sicht von Amanda. Sie ist es auch, die hier auf Fragen antwortet, die der Nachbarjunge David aufwirft. Einmal sagt sie: "Du musst stehenbleiben. Ich bin total erschöpft." Und David gibt zur Antwort: "Wenn du dich konzentrierst, gehen die Dinge schneller." "Dann sind sie aber auch schneller vorbei", sagt Amanda, worauf David sie tröstet: "Sterben ist nicht so schlimm."

Dieser Roman ist leise, rätselhaft - und hinterrücks gefährlich

Vordergründig wird aus dem Alltag zweier Mütter erzählt, der neuen Nachbarinnen Carla und Amanda. Wie zu erwarten, sind sie um ihre Kinder besorgt, Carla um David, Amanda um Nina. Bevorzugt redet Amanda vom "Rettungsabstand", der unbedingt einzuhalten sei, um ihre Tochter vor Gefahren zu schützen. Im Kopf errechnet sie, wie lange sie bräuchte, um bei Nina am Swimmingpool zu sein. Die Großmutter habe es ihrer Mutter und die Mutter habe es ihr eingetrichtert, jeweils die ganze Kindheit lang. Diese ehrbaren mütterlichen Gefühle sind literarisch wenig ergiebig. Sie gehen einem sogar schnell auf die Nerven. Aber indem Schweblin das allzu Bekannte und hundertmal Gehörte heraufbeschwört, ködert sie ihre Leserinnen und Leser mit vertrauten Erfahrungen - um dann zu zeigen, dass das bürgerliche Sicherheitsbedürfnis für den Ausnahmezustand keine Begriffe hat. Im Fall von Gift hilft das alles nichts.

Carlas Mann hat früher Rennpferde gezüchtet. Noch immer holt er für seine Stuten einen Deckhengst auf die Koppel. Unten am Bach, wo sie ihren Sohn David kurz absetzt, entdeckt Carla einen toten Vogel. Anderntags verendet der Hengst kläglich. Auch David zeigt plötzlich auffällige Symptome, und als Carla nicht mehr ein noch aus weiß, geht sie mit ihm zu einer Zauberin. Die verspricht Rettung durch "Transmigration". Wenn Davids Geist einen anderen Körper finde, verschwinde damit auch ein Teil der Vergiftung. Das ist eine riskante Szene, wenn auch nüchtern erzählt. Sie zeigt, wie wir angeblich so Aufgeklärten angesichts der Gefahr im Aberglauben Zuflucht suchen. Nach der Behandlung ist David nicht mehr David, wie ihn seine Mutter gekannt hat.

Stehen Carla und die Firma, für die sie arbeitet, mit dem Gift in Verbindung? Vieles spricht dafür, denn das Dorf lebt von der Landwirtschaft. Einmal schauen Amanda und ihre Tochter Nina, auf dem Rasen vor der Firma sitzend, Männern dabei zu, wie sie Fässer vom Laster abladen. Nachher sind ihre Kleider nass, und die Hände stinken widerlich. Bald darauf erleidet Amanda einen Schwächeanfall, ihre Augen jucken, und das Licht ist viel zu hell. Im Dorf überqueren Kinder die Straße, "es sind merkwürdige Kinder", stellt Amanda fest, "es sind, keine Ahnung, meine Augen brennen so. Kinder mit Missbildungen. Sie haben keine Wimpern und auch keine Augenbrauen, ihre Haut ist rot, sehr rot, und schuppig."

Die Väter von Nina und David spielen so gut wie keine Rolle. Als sie endlich zusammentreffen, finden sie keine Worte für das, was geschieht. Amanda hat ihren Mann anrufen und aus der Stadt kommen lassen, als würde sie spüren, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt. Wo ist Nina?, stammelt sie, wie geht es meiner Tochter?

Mittlerweile ist klar, dass Amanda auf der Erste-Hilfe-Station liegt. Und dass ihr David, der Nachbarjunge, beisteht. Dessen Mutter Clara will Fieber an ihr bemerkt haben und Halluzinationen. Es könnte also gut sein, dass alles, was man liest, nichts anderes ist als ein fieberhaftes Selbstgespräch, eine lang andauernde Halluzination. Dass der Roman seine Geheimnisse wahrt und im Kern nicht zu entschlüsseln ist, steht für die literarische Raffinesse, mit der Samanta Schweblin ihre tröpfelnden Informationen setzt.

Folgt man der Erzähllogik, ob halluzinatorisch oder nicht, dann ist der durch Transmigration veränderte David die Schlüsselfigur. Im Garten hat er 28 Gräber angelegt, für unzählige Enten, für einen Hund, sogar für Pferde. All die todgeweihten Tiere haben seine Nähe gesucht und sind unter seinen Augen gestorben. "Ich werde dich jetzt anschieben", sagt er zu Amanda. Genau so, wie er die Enten, den Hund, die Pferde angeschoben hat, mit einer leichten Berührung weit hinüber, ins Jenseits.

© SZ vom 22.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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