Archivfund:Der Hund als Vizekönig

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Im Familienarchiv wurden 20 000 unbekannte Manuskriptseiten Jacques Offenbachs entdeckt. (Foto: Jean-Christophe Keck)

Der Offenbach-Forscher Jean-Christophe Keck hat 20000 unbekannte Manuskriptseiten des Komponisten entdeckt. Die geschätzt 650 Stücke nennt der Sänger, Dirigent und Musikwissenschaftler ein "pharaonisches Werk".

Von Michael Stallknecht

Ein Hund in der Titelpartie? Jacques Offenbachs Werk ist reich an verrückten Einfällen, doch der zur ersten Opéra-comique zählt sicher zu den irrwitzigsten. "Barkouf" - so Stücktitel und Hundename - erzählt von einem Volk, das die rebellische Eigenschaft hat, die ihm zugeteilten Vizekönige aus dem Fenster zu werfen, weshalb der ferne Großmogul seinen Hund als neuen Vizekönig schickt. Siehe da: Unter tätiger Mithilfe des Volkes regiert das Vieh besser als alle vorherigen Spitzenpolitiker zusammen.

Offenbach hatte als Cellist an der Opéra-Comique begonnen, doch als Komponisten hatte man ihn nicht gewollt. Also gründete er ein eigenes Theater, die Bouffes-Parisiens. Als dort längst halb Paris vor Lachen am Boden lag, wollte ihn auch die Opéra-Comique. Mit dem ungewöhnlichen Stoff wollte Offenbach die in Lyrismen erstarrende Comique an ihre Ursprünge einer schlichten und volksnahen Komik erinnern. Die Produktion von 1860 wurde zum Skandal: Die Zensur schrie nach Verbot, die Musikkritiker schimpften. Weil das Stück nun als Misserfolg galt, wurden nur einige Nummern gedruckt. Der Rest galt als verschollen, eine Wiederaufführung damit als unmöglich.

Dass sie nun denkbar sein könnte, ist Jean-Christophe Keck zu verdanken. Der französische Sänger, Dirigent und Musikwissenschaftler setzt sich schon lange für Offenbach ein, beim Verlag Boosey & Hawkes erscheint die Offenbach Edition Keck (OEK). Er hat Orchesterstimmen aus Verlagsauflösungen, Partituren aus Bibliotheken vor der Entsorgung gerettet. Die größten Funde gelangen in einem Haus nahe Paris von Erben der Familie Offenbach, darunter, so der Verlag, das verschollen geglaubte Autograph zum ersten und zweiten Akt von "Hoffmanns Erzählungen".

Bei seltener gespielten Opern ist die Quellenlage komplizierter als bei Offenbachs letztem Werk. Er starb über der Vollendung, die Orchesterstimmen konnte er nicht mehr setzen, der letzte der fünf Akte blieb Fragment. Die Familie bat den befreundeten Komponisten Ernest Guiraud, das Fehlende zu ergänzen. Bei der Uraufführung ließ der verunsicherte Intendant der Opéra-Comique den vierten Akt ganz weg, was Bearbeitungen Tür und Tor öffnete. So komponierte etwa Raoul Gunsbourg, langjähriger Intendant der Oper Monte Carlo, für eine Aufführung 1904 weitere Musik hinzu. Bald gingen die neuen Nummern in die Aufführungstradition ein. Viele Jahre nach Gunsbourgs Tod auf einem Schloss in Burgund tauchten plötzlich Teile von Offenbachs Original auf - unter Altpapier.

In den drei Mittelakten erzählt der Dichter E. T. A. Hoffmann von drei Begegnungen mit drei verschiedenen Frauen. Den sogenannten Antonia-Akt konnte die Bibliothèque de l'Opéra in Paris bereits 1941 erwerben, Anfang der Siebzigerjahre tauchten in der Familie Offenbach Teile des Giulietta-Aktes auf, 1993 fand sich bei Gunsbourg der Aktschluss. Mit dem Fund des Olympia-Akts (und des Prologs) durch Keck ist das Manuskript fast vollständig. "Hoffmanns Erzählungen", bisher aufgrund des unvollendeten Zustands als "offenes Kunstwerk" geltend, nähert sich also stärker einer klaren Werkgestalt, auch wenn die Instrumentation nicht von Offenbach stammt. "Jetzt wissen wir exakt, in welchem Stadium Offenbach sein Werk im Moment seines Todes hinterlassen hat", sagt Keck. In der Partitur finde sich neben der Hand Guirards auch die von Offenbachs Sohn Auguste, der ebenfalls komponierte und dessen Werke in der familiären Schatzkammer lagen.

Doch niemand kann wissen, welche Kürzungen und Umarbeitungen Offenbach vor der Premiere vorgenommen hätte. So hat Keck im selben Material etwa vierzig bislang unbekannte Minuten der Operette "Die Großherzogin von Gerolstein" entdeckt. Keck hält vieles noch für wichtiger als die beiden "Hoffmann"-Akte, in denen Abweichungen zur Dirigierpartitur der Uraufführung eher minimal seien. Unter den etwa zwanzigtausend unveröffentlichten Manuskriptseiten befänden sich bislang verschollene Stücke wie "Barkouf" oder "Entrez Messieurs Mesdames", das den Prolog zum Eröffnungsabend der Bouffes-Parisiens bildete. Daneben befänden sich auch Kammermusik- und Orchesterwerke: Offenbach als Komponist reiner Instrumentalmusik. Dazu enthält die Sammlung Kopistenabschriften und gedruckte Partituren mit handschriftlichen Anmerkungen Offenbachs.

Ein "pharaonisches Werk" nennt er die geschätzt 650 Stücke Jacques Offenbachs

Dass Notenhandschriften unausgewertet auf den Dachböden von Erben lagern, ist nicht ungewöhnlich. Wer so etwas erbt, weiß damit auch nicht sofort mehr anzufangen als Musikfremde. Im Falle Offenbachs zeigt es die Fehleinschätzung, der er noch immer latent unterliegt. Er galt lange nur als Schöpfer einer Handvoll bekannter Operetten und von "Hoffmanns Erzählungen" als spätem Ausflug in die Oper. "Offenbachs Image hat sich schon sehr entwickelt", so Keck, "doch die Mentalitäten im Umgang mit ihm ändern sich nicht so schnell". Ein "pharaonisches Werk" nennt er die geschätzt 650 Stücke, davon etwa einhundertdreißig für die Bühne. Dabei handelt es sich nicht nur um "Operetten", sondern um Werke diverser Genres von der kleinen Bouffonerie über die elegante Opéra-Comique bis zum großen Ausstattungsstück. In den vergangenen Jahren haben die französischen und deutschen Theater einiges gehoben. Doch fehlt es an Mitteln, das Konvolut entsprechend wissenschaftlich aufzubereiten.

"Wenn es sich um Funde bei Richard Wagner handeln würde", sagt Frank Harders-Wuthenow, der Kecks Edition beim Verlag betreut, "dann hätten wir längst Drittmittel." Offenbar gelte er immer noch gern als "Unterhaltungskomponist", Unterhaltung latent als weniger bedeutend. Es lohne sich für einen Verlag nicht, ein Stück nur für eine Wiederaufnahme herauszugeben. Daran scheitere momentan auch der Umgang mit dem neu aufgefundenen Material. "Wir müssen jetzt eine Art Marshallplan machen", sagt Harders-Wuthenow. "Barkouf" jedenfalls verdient für Jean-Christophe Keck "eine schnelle Auferstehung".

© SZ vom 02.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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