Architektur:Stachel im Herzen

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In London gibt es immer mehr Obdachlose - und immer mehr Maßnahmen, die sie aus dem Stadtbild vertreiben sollen. Eine Initiative prangert jetzt die neueste Idee an, die Menschen daran hindern soll, im Freien zu schlafen: Stacheln aus Metall.

Von Alexander Menden

Manche Plätze und Gebäude in London sind traditionell Aufenthaltsorte für Obdachlose. St Martin-in-the-Fields am Trafalgar Square beispielsweise - die Gemeindekirche des Buckingham-Palastes ist nicht nur eine Touristenattraktion, sondern auch eine zentrale Anlaufstelle für Menschen ohne Bleibe. Die hinteren Bänke der "Kirche der immer offenen Tür" sind meist von Obdachlosen besetzt, die sich hier ausruhen, in der Regel sehr still und unaufdringlich. In einem Nebengebäude gibt es Waschgelegenheiten und Gruppenräume. Aber die wenigsten Orte in der Achteinhalb-Millionen-Stadt London sind so gastfreundlich.

Die Zahl der Obdachlosen in Großbritannien steigt seit Jahren kontinuierlich. Das ist zum Teil der Wirtschaftssituation, zum Teil dem zunehmenden Zuzug aus dem europäischen Ausland geschuldet. Zwischen Januar und März 2015 gab es landesweit mehr als 27 000 Anträge auf Wohngeld von Menschen, die keine feste Unterkunft hatten, etwas weniger als die Hälfte davon wurde bewilligt. In London ist das Problem am stärksten spürbar, allein in Westminster hat die Obdachlosen-Stiftung "Homeless Link" zuletzt mehr als 650 rough sleepers registriert. Nach einer Erhebung des "Combined Homelessness and Information Network" übernachten im Großraum London 7581 Menschen regelmäßig im Freien.

Die Stadtteilverwaltungen versuchen, es ihnen so schwer wie möglich zu machen, im Straßenbild in Erscheinung zu treten. Als besonders effektiv hat sich dabei die Bestückung freier Flächen, auf denen man schlafen könnte, mit konischen Metallnieten erwiesen. Doch diese martialisch aussehende Bewehrung, offiziell "defensive Architektur" genannt, stößt auch manchem, der nicht obdachlos ist, sauer auf.

Eine Aktionsgruppe um die Dokumentarfilmemacherin und Journalistin Leah Borromeo hat jüngst die Initiative "Space not Spikes" ins Leben gerufen, die auf die "Brutalität der Anti-Obdachlosen-Stacheln" aufmerksam machen will. Borromeo und ihre Mitstreiter legten eine Matratze und ein kleines Regal mit Büchern zur britischen Wohnungskrise über eine Reihe Metallzacken in der Curtain Road. "Wir betrachteten diese Stacheln als einen direkten Angriff auf alles, was uns zu Menschen macht", so Borromeo in einem Artikel für den Guardian . "Jeder könnte aus allerlei Gründen auf der Straße enden, ohne Wohnung, Freunde oder Unterstützung. Manchmal fühlt man sich da, wo man ist, so unsicher, dass auf einem Sims in Ost-London zu schlafen wie die bessere Option wirkt." Defensive Architektur sei ein Zeichen, dass "Menschen, ganz gleich ob sie Wohnungen haben oder nicht, nicht willkommen sind", so Borromeo.

Die "Space not Spikes"-Leute haben natürlich recht: Die Metallnieten dienen einzig dem Zweck, Ungleichheit und Armut aus dem unmittelbaren Wahrnehmungsfeld zu verbannen. Die Matratze in der Curtain Road war allerdings bald verschwunden. Die Aktion stellte einen ehrenwerten Versuch dar und wirkt in einer Stadt, in der fast ausschließlich das Geld der Bauunternehmer die Stadtplanung bestimmt, doch nur wie eine Geste der Verzweiflung. Viel Hoffnung auf Besserung gibt es nicht.

© SZ vom 04.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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