Architektur:Durchbruch

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54,5 Millionen Pfund und drei Jahre Bauzeit: In London wurde der viktorianische Prachtbau des Victoria & Albert Museum auf spektakuläre Weise erweitert. Ein Rundgang mit der Architektin Amanda Levete.

Von Alexander Menden

Wenn man künftig von der Exhibition Road, der breiten Londoner Straße, die von Süden auf Kensington Gardens zuläuft, das Areal des Victoria & Albert Museum betritt, wird man es an einer Stelle tun, von der aus seit der Eröffnung des Gebäudes im Jahre 1909 noch nie ein Besucher Zugang hatte. Der untere Teil der Kolonnade, die die Westseite des Museums bildet, war bisher mit einer zwei Meter hohen Mauer aufgefüllt. Die Kolonnade steht noch. Doch anstelle des Mauerkonstrukts führen jetzt elf Türen aus perforiertem Aluminium auf einen neuen Vorplatz - ein Tor unter dem zentralen Rundbogen, rechts und links, zwischen den Vierkantsäulen mit ihren ionisierenden Kapitellen, jeweils fünf kleinere.

Es sei einer der schwierigsten Kämpfe seit Planungsbeginn vor sechs Jahren gewesen, eine Genehmigung für diesen Durchbruch zu bekommen, erzählt Amanda Levete. "Ich wollte unbedingt diese Öffnung hin zur Exhibition Road", sagt die britische Architektin, die für die Gestaltung des neuen "Exhibition Road Quarter" des V&A verantwortlich zeichnet. English Heritage, die Organisation, die als Gralshüter des englischen Denkmalschutzes fungiert, hätte dem normalerweise niemals zugestimmt. Allein die Tatsache, dass in der Mauer noch Schäden von Bombensplittern aus dem Zweiten Weltkrieg zu sehen waren, machte sie zu einem erhaltenswerten Teil des denkmalgeschützten Gebäudes.

48 Meter tief graben, direkt neben dem denkmalgeschützten Bau. Früher: undenkbar

Levete, eine zierliche, energische 61-Jährige, führt mit sichtlichem Stolz durch das, wie sie sagt, "mit Abstand komplexeste Projekt" ihrer Karriere. Das bisher bekannteste Gebäude der gebürtigen Waliserin, eine futuristisch aussehende Filiale des Kaufhauses Selfridges in Birmingham, entstand in Zusammenarbeit mit ihrem damaligen Ehemann und Partner Jan Kaplický. Das gemeinsame Büro Future Systems war maßgeblich an der Etablierung einer biomorphologischen Formsprache in der Architektur beteiligt. Seither sind einige wichtige Projekte hinzugekommen, darunter ein Museum in Lissabon, die neue Londoner Goldman-Sachs-Zentrale und ein Umbau der Galeries Lafayette in Paris. Doch erst das "Exhibition Road Quarter" hat Levete in eine neue Liga katapultiert.

Die Architektin wirkt wie eine Frau, die es gewohnt ist, sich durchzusetzen. Das Tauziehen mit English Heritage hätte sie aber wohl verloren, wäre ihr nicht am Ende ein Kollege posthum zu Hilfe gekommen. Denn wie sich nach Studien der Entwürfe Sir Aston Webbs für das spätviktorianische Hauptgebäude herausstellte, hatte dieser anfangs etwas sehr Ähnliches wie Levete geplant: einen Zugang von Westen, dahinter einen öffentlichen Garten. Weil aber das Geld ausging, und die Heizräume ober- statt unterirdisch installiert wurden, verwandelte sich die Kolonnade in eine Verblendung. Nachdem die Boiler abgebaut waren, blieb der dahinterliegende Bereich ungenutzt. "Wir haben diesen Teil des Museums nicht nur seinem ursprünglichen Zweck zugeführt, sondern auch das Verhältnis zwischen Museum und Straße verbessert", sagt Amanda Levete. "Es bildet ein Ensemble mit dem Natural History Museum und dem Science Museum auf der anderen Straßenseite."

Man könnte meinen, die äußeren Um-stände seien nicht gerade ideal gewesen für diese - mit einem Budget von 54,5 Millionen Pfund und einer Bauzeit von drei Jahren - ambitionierteste Erweiterung des V&A seit mehr als 100 Jahren. Amanda Levete musste im Verlauf des Planungs- und Bauprozesses mit drei verschiedenen Direktoren dieses weltweit größten Museums für angewandte Kunst und Design zusammenarbeiten: erst mit Mark Jones, unter dessen Ägide ihr Büro den Wettbewerb gewann. Dann mit Martin Roth, mit dem sie vier Jahre zusammenarbeitete, und der ihr "unglaubliche Unterstützung" gewährt habe, wie sie sagt. Und schließlich, nach Roths unerwartetem Abgang im vergangenen November, mit dem Labour-Politiker Tristram Hunt. Glaubt man Levete, hätte die Kooperation mit allen dreien aber nicht glatter laufen können.

Mit Hunt, damals noch Abgeordneter für Stoke, hatte sie zufällig bereits zu Beginn der Planung zu tun gehabt, als es darum ging, welche Kacheln für die "Sackler Plaza" benutzt werden würden. Es gab damals den Plan, sie in Stoke, der Keramikhauptstadt Englands, herstellen zu lassen. Letztlich entschied Levete sich jedoch dafür, die benötigten 11 000 Kacheln von der königlichen Porzellanmanufaktur im holländischen Makkum zu ordern. Einzeln handgefertigt und mit bunt glasierten Rillen akzentuiert, werden diese Porzellankacheln hier erstmals als Bodenbelag verwendet. Weiß leuchtend erstrecken sich die 1200 Quadratmeter des neuen Hofes. Auf der Nordseite beherbergt ein neuer Pavillon, dessen geschwungenes Dach ebenfalls mit Porzellankacheln gedeckt ist, ein neues Café und den unvermeidlichen Shop. Südlich, seitlich der Treppe, führt eine Rampe auf das Museum zu, von wo im Boden eingelassene Glasplatten einen ersten Einblick in den neuen Ausstellungsraum darunter, die "Sainsbury Gallery", gewähren.

Die Eingangshalle wirkt mit ihrem Terrazzo-Boden eher kalt. Der Name des um-strittenen ukrainisch-amerikanischen Mäzens Leonard Blavatnik prangt riesig über einer Reihe von Touchscreens, die zum Selbstausdruck bestellter Tickets dienen sollen. Optisch erfüllt der Raum eine wichtige Funktion: Dadurch, dass er jetzt nur noch durch eine Glaswand von den John Madejski Gardens getrennt ist, ist erstmals eine direkte Blickachse von diesem zentralen Museumshof im Osten zur Exhibition Road im Westen entstanden.

Die in dieser Halle in den Boden eingelassene, mit einer schwarz lackierten Ulmenholzbalustrade umgebene Treppe, die in den neuen Ausstellungssaal hinabführt, wirkt weit unspektakulärer als manch anderer Aspekt des Projekts. Laut Amanda Levete stellte ihre Realisierung aber mit Abstand die größte technische Herausforderung dar. Levetes Wettbewerbsentwurf war der einzige, der diese Lösung vorsah; alle anderen wollten den Besucher direkt vom Vorplatz in die unterirdische Galerie führen. "Aber erstens hätte man dann draußen viel Raum verspielt, und zweitens die gefühlte Verbindung zum alten Gebäude verloren", erklärt die Architektin. Vom Treppenabsatz aus kann man durch verglaste Aussparungen die Kuppel des Aston-Webb-Baus sehen. Die drei mächtigen Stahlträger, die das Gewicht der Plaza tragen, sind orange gefärbt - Levete wollte sie nicht verstecken, sondern betonen: "Wir mussten hier, einen Meter von einem denkmalgeschützten Gebäude entfernt, 48 Meter tief graben", erklärt sie. "Noch vor zehn Jahren hätten wir dieses Projekt überhaupt nicht umsetzen können, weil die Modelle, die die Ingenieursfirma Arup verwendete, um die Erdbewegungen vorherzusagen, nicht existierten. Die Galerie wäre dann deutlich kleiner ausgefallen."

Tatsächlich wirkt der neue unterirdische Raum für Sonderausstellungen mit seinen insgesamt 1100 Quadratmetern Grundfläche wie eine der riesigen Soundstages in den Londoner Pinewood-Filmstudios: Ein Raum wie ein Hangar, 38 Meter lang, 30 Meter breit, mit einer maximalen Deckenhöhe von zehneinhalb Metern. Am Tag des Besuchs ist er noch völlig leer. Zwei Soundingenieure sitzen an einem digitalen Mischpult und testen Orgelklänge für eine Installation. Die Akustik ist erstaunlich gut für einen Raum dieser Größe, was vor allem an der gefalteten Decke liegt, die zur Hälfte aus Akustikputz besteht. Hauptanspruch sei eine komplett flexible Bespielbarkeit gewesen, sagt Amanda Levete. Dazu gehört auch die Entscheidung, die Wände grau statt weiß zu tünchen: "Es sollte nicht die Art 'Weißer Würfel' werden, mit dem man zeitgenössische Galerieräume verbindet."

"Jetzt arbeitet der Raum sozusagen mit uns."

Mindestens ebenso wichtig wie die Sainsbury Gallery selbst sind die ein Stockwerk tiefer liegenden Räumlichkeiten, die technische Dienste, Kühlung, Arbeitsräume für Konservatoren und Kuratoren erstmals alle an einem Ort versammeln. Der Aufbau von Sonderausstellungen wird da-durch, ebenso wie durch die neuen Zugänge und Aufzüge, einfacher, preiswerter und sicherer als in den sogenannten North und South Courts, in denen sie bisher statt-fanden. Hinter den schwarzen Wänden, die dort in den Siebzigerjahren eingezogen wurden, verstecken sich einige der interessantesten viktorianischen Interieurs des ganzen Gebäudes. Diese sollen nun Stück für Stück freigelegt, die alten Sonderausstellungssäle zu permanenten Galerien umfunktioniert werden. Tim Reeve, Stellvertretender V&A-Direktor, vergleicht den neuen Raum mit einer "leeren Leinwand": "Bisher haben wir unsere Konzepte das ein oder andere Mal trotz der verfügbaren Räume umgesetzt", so Reeve. "Jetzt arbeitet der Raum sozusagen mit uns."

Angesichts des resolut zeitgenössischen Designs des "Exihibition Road Quarter" wird es interessant sein, zu sehen, wie die britischen Reaktionen ausfallen - nichts genießt in diesem prinzipiell zum Konservatismus neigenden Land so hohes Ansehen wie die viktorianische Baukunst. Amanda Levete macht sich jedenfalls keine Sorgen wegen möglicher Beschwerden darüber, dass sich ihr Entwurf nicht genug an der Ästhetik des alten Baus orientiere: "Das V&A hat immer nach vorne geblickt", sagt sie. "Man muss einem Gebäude immer wieder neues Leben einhauchen. Und zwar auch mit den Mitteln der eigenen Epoche."

© SZ vom 29.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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