Arbeitswelt:Der Mensch als Maschine

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"Es gibt in dieser Gesellschaft soziale Abstiege, aber wir sind keine Abstiegsgesellschaft." (Foto: imago)

Nicht Roboter, die den Menschen ersetzen, sind das Problem der Arbeitswelt. Sondern Menschen, die zu Robotern werden. Das ist nicht neu, denn was als Vision vermarktet wird, ist lediglich ein billiges Retropia.

Von Adrian Lobe

Vor genau 100 Jahren kam es in Victoria und New South Wales in Australien zum "großen Streik": Über hunderttausend Eisenbahner, Bergarbeiter und Hafenarbeiter protestierten gegen sinkende Löhne und steigende Brotpreise. Der Anlass der Revolte 1917, die als "The Great Strike" in die Geschichte einging, war jedoch ein anderer: Das Management der Eisenbahngesellschaft in Eveleigh und Randwick in Sydney wollte ein Kartensystem einführen, auf denen die Produktivität der Arbeiter vermerkt werden sollte. Die Arbeiter befürchteten, dass sie durch das neue System zu Maschinen degradiert würde. Von "Robotismus" und einer "Amerikanisierung der Arbeit" war die Rede.

Im Jahr 1911 entwickelte der US-amerikanische Ingenieur Frederick Winslow Taylor sein Konzept der wissenschaftlichen Betriebsführung ("scientific management"). Die Idee war es, jeden Arbeitsschritt streng zu takten und den Arbeiter seiner geistigen Leistung zu entheben. Taylor ließ ab 1882 Studien durchführen, bei denen der optimale Bewegungsablauf eines Arbeitsvorgangs ermittelt werden sollte. Taylors Idealbild war, auch wenn er dies nicht so formulierte, ein autoritär gelenkter Roboter. Den Begriff gab es damals noch nicht, den prägte - womöglich als Reaktion auf den raumgreifenden Taylorismus - der tschechische Schriftsteller Karel Čapek 1920 in seinem Drama R. U. R., in dem die fiktive amerikanische Firma "Rossums Universal Robots" seelen- und rechtelose Menschmaschinen produziert. Der Begriff "robota" bedeutet im Tschechischen "Arbeiter". Insofern verschwimmen die Grenzen zwischen Roboter und Arbeiter bereits in der Terminologie.

Wie sich die Zeitdiagnosen ähneln: Auch heute fühlen sich Angestellte der "Gig Economy" wie Maschinen, wehren sich Arbeitnehmer gegen die Taktung und Scorisierung ihres Arbeitsalltags, bei dem sie nur noch eine Nummer im System sind. Smartphones, Fitness-Tracker, Datenbrillen - am Menschen werden immer mehr Sensoren installiert. Die britische Supermarktkette Tesco hat ihre Warenhausmitarbeiter mit smarten Armbändern ausgestattet, um zu sehen, wohin sie sich bewegen und wie viel sie arbeiten. Uber-Fahrer werden von einem Computer geleitet, der sie auf bestimmte Routen schickt und durch die algorithmische Tarifbildung den nicht gerade üppigen Lohn festsetzt. Und die Mitarbeiter in Amazons Logistikzentren werden von GPS-Sendern überwacht und gewarnt, wenn sie zu langsam sind. Wegen ihrer mechanistischen Arbeitsweise werden die Angestellten ("Picker") auch "Amabots" genannt. Ein Picker sagte der BBC: "Wir sind Maschinen, wir sind Roboter, wir stecken unsere Scanner rein, wir halten ihn, aber wir könnten den Stecker auch in uns selbst hineinstecken."

Der entscheidende Unterschied zwischen dem Taylorismus 1.0 und 2.0 ist, erstens, dass das algorithmische Management den bösen Kapitalisten, gegen den sich der Protest etwa der Uber-Fahrer entladen könnte, praktisch unsichtbar gemacht hat, und zweitens, dass die Taktung des Arbeitsalltags nicht mehr oktroyiert wird, sondern die Menschen freiwillig Zeit- und Bewegungsstudien durchführen, mit denen sie ortbar und auslesbar werden. Immer mehr Menschen laufen mit Smartphones oder Fitness-Trackern herum, die ihre Schrittzahl oder Herzfrequenz messen. Google hat vor Kurzem mit dem Bekleidungshersteller Levi Strauss eine Hightech-Jacke auf den Markt gebracht, in die elektrisch leitende Fasern eingewoben sind, die auf Touch-Eingaben wie ein Smartphone-Display reagieren. Mit der Hightech-Jacke legt sich das Textil gewordene Überwachungsnetz direkt an die Haut. Die Feministin Donna Haraway schrieb in ihrem Cyborg-Manifest aus dem Jahr 1984: "Kein Objekt, Raum oder Körper ist mehr heilig und unberührbar. Jede beliebige Komponente kann mit jeder anderen verschaltet werden, wenn eine passende Norm oder ein passender Code konstruiert werden kann, um Signale in einer gemeinsamen Sprache auszutauschen. (...) Organismen sind zu biotischen Systemen geworden, zu Kommunikationsgeräten wie andere auch."

Die US-Firma Three Square Market, die Verkaufsautomaten herstellt, ließ ihren Mitarbeitern kürzlich Mikrochips implantieren, damit sie kontaktlos Türen öffnen oder Snacks bezahlen können, und machte sie damit selbst automatengerecht. Die Aktion wurde als "Chip-Party" eventisiert. Doch wenn die Mitarbeiter die Überwachungstechnologie unter der Haut tragen und sich damit zu Cyborgs aufrüsten, braucht man gar keine Bewegungsstudien mehr durchführen. Der Überwachte überwacht sich selbst. Wo künstliche Intelligenz immer intelligenter wird, wird der Mensch immer maschinenähnlicher. Er arbeitet mechanisch Skripte ab, spult Programme und stanzt bestimmte Formeln.

Im Vorwahlkampf der US-Präsidentschaftswahl kam es zu einer kuriosen Szene: Der Republikaner Marco Rubio wiederholte in einer Debatte innerhalb von wenigen Minuten dreimal denselben Satz, als hätte jemand auf die Wiederholungstaste gedrückt. Aber wer sprach da eigentlich? Rubio? Seine Berater? Eine Maschine? Ein Hybrid? Die Sequenz erinnert an eine Szene aus dem Film "Die Frauen von Stepford" aus dem Jahr 1975, in dem eine Roboterfrau mechanisch den Satz "Ich dachte, wir wären Freunde" wiederholt und damit ihr Roboterwesen offenbart. Gepaart mit seiner steifen Mimik wirken Rubios Sätze wie das Skript eines Automaten. Auch die britische Premierministerin Theresa May wird wegen ihres roboterhaften Duktus als "Maybot" verspottet.

Die Vorstellung vom Menschen als Maschine ist so alt wie die Maschine selbst. Der französische Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie schrieb in seinem Werk "L'homme machine" aus dem Jahr 1748: "Der menschliche Körper ist eine Maschine, die selbst ihre Federn aufzieht." Lange bevor iPhones, Laptops und PCs auf den Markt kamen, bezog sich der Begriff "Computer" auf Menschen, die per Hand Rechenoperationen ausführten. Der Mathematiker Gaspard de Prony schuf Ende des 18. Jahrhunderts eine mathematische "Fabrik", in der drei Gruppen von menschlichen "Rechnern" arbeitsteilig logarithmische und trigonometrische Tafeln zerlegten. Die "Planer", die über eine mathematische Grundausbildung verfügten, reduzierten die trigonometrischen Funktionen und ließen hinter jedem Rechenschritt ein freies Kästchen. Die Formeln wurden so vereinfacht, dass am Ende die dritte Abteilung von "Computern" - Menschen, die mit Papier und Bleistift arbeiteten - nur die arithmetischen Grundoperationen ausführen und die Ergebnisse in die freien Felder übertragen mussten.

Die Menschmaschine ist der Urtraum des Kapitalismus

Das materialistische Weltbild hat sich über die Jahrhunderte gehalten. Wir fühlen uns in Drucksituationen unter Dampf, stehen unter Strom oder sehnen uns nach einem "reset" - als könnte man den menschlichen Rechner herunterfahren. Die Frage ist: Wie computerisiert ist das Individuum? Vor wenigen Wochen ordnete die amerikanische Arznei- und Lebensmittelaufsicht FDA eine Rückrufaktion für rund eine halbe Million Herzschrittmacher an: Aufgrund einer Sicherheitslücke konnten die Geräte des Herstellers St. Jude Medical per Funk aus der Ferne bedient werden. Cyberkriminelle hätten in ungesicherte Herzschrittmacher eine Schadsoftware einschleusen und Zugriff auf die Herzfunktion des Patienten bekommen und so Menschen programmieren können. 500 000 Patienten mussten sich in Krankenhäuser begeben, um sich ein Software-Update aufspielen zu lassen, als wären sie Maschinen, die zur Reparatur in die Werkstatt gerufen werden, wie die Dieselfahrzeuge, die einem Software-Update unterzogen wurden.

Frank Schirrmacher schrieb in seinem Buch "Ego: Das Spiel des Lebens", dass man La Mettries "Der Mensch als Maschine" auch als Bauanleitung für das preußische Heer, "gewiss aber auch für das Weltbild von Friedrichs Untertanen lesen kann", die als willfährige Befehlsempfänger in einem Obrigkeitsstaat auf Knopfdruck "funktionieren" und gehorchen. Die Menschmaschine ist der Urtraum des Kapitalismus und beflügelt auch die Allmachts- und Kontrollfantasien techno-autoritärer Utopisten wie Ray Kurzweil und Elon Musk, die den Menschen zum Cyborg aufrüsten wollen, damit dieser mit der künstlichen Intelligenz Schritt halten kann. Doch was als Vision vermarktet wird, ist lediglich ein billiges Retropia. Wir stehen wieder am selben Punkt wie die streikenden Arbeiter 1917. Der Mensch wird maschinisiert - und zerlegt sich selbst zum Automaten.

© SZ vom 15.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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