Amerikanische Literatur:Wie exotische Fische im Aquarium

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Ein Haus brennt ab, eine Frau verschwindet: Bill Clegg rettet in seinem viel gerühmten Debütroman die Familie.

Von Christoph Schröder

Der Herd in June Reids Haus in Wells, Connecticut, ist ein altmodisches Monstrum. Keines jener eleganten Retrogeräte, das sich reiche Städter in ihre Landhäuser stellen, sondern ein altes, klappriges Ding, leicht angerostet, mehrfach provisorisch geflickt. Ein gefährliches Teil also. June Reids Haus ist abgebrannt. Es hat eine Explosion gegeben. Möglicherweise war der Herd die Brandursache.

Möglicherweise aber hat auch Luke Morey, Junes mehr als zwanzig Jahre jüngerer Geliebter, aus Rache den Brand gelegt. Ist ja ohnehin eine zwielichtige Gestalt, dieser Luke. Ein Bastard, der schon wegen Drogenhandels im Gefängnis gesessen hat. So redet man in der Kleinstadt. Vier Todesopfer hat der Brand gefordert: Junes Tochter Lolly, deren Bräutigam Will, Junes Ex-Mann Adam. Und Luke selbst. Am nächsten Tag wollten Lolly und Will heiraten.

Nach der Katastrophe lässt June die Trümmer ihres Hauses so schnell wie möglich beseitigen, erträgt gerade noch so die Beerdigungsfeier, um sich anschließend in ihren Wagen zu setzen und zu verschwinden. Zurück lässt sie eine Gewirr aus Mutmaßungen, Gerüchten, üblen Nachreden und Schuldgefühlen.

Bill Clegg gründete zu Beginn der Nullerjahre eine erfolgreiche Literaturagentur in New York. Später erzählte er in zwei kurz aufeinander folgenden Büchern von seiner Cracksucht, von zunächst erfolgreichen Entziehungskuren und neuen Rückschlägen. "Fast eine Familie" ist nun sein Debütroman; ein Buch, das sich liest, als sei es am Reißbrett entworfen worden, was dem Text bei allen behaupteten emotionalen Wallungen eine unfreiwillige Kühle verleiht. Ausgehend von einer privaten Katastrophe, dem Hausbrand, verfolgt Clegg zwei erzählerische Wege: Zum einen geht es um Aufklärung und darum, wie das soziale Gefüge einer Kleinstadt durch ein Unglück erschüttert werden kann. Zum anderen verfolgt Clegg die Lebenswege seiner Figuren, letztendlich mit dem Ziel, so etwas wie Heilung und Versöhnung mit sich selbst herbeizuführen.

"Fast eine Familie" ist in einem mosaikartigen Verfahren zusammenesetzt; aus einer Vielzahl von Stimmen und Gedankenströmen, die das Geschehen aus einer jeweils subjektiven Perspektive beleuchten. Ihre Wege kreuzen sich in entscheidenden Augenblicken, und all diese Momente kulminieren letztendlich in der gewaltigen Explosion, die sämtliche Menschen auslöscht, die June liebt oder einmal geliebt hat. Da ist also zunächst einmal June selbst, Anfang 50, erfolgreiche Kunsthändlerin, die sich nach der Trennung von ihrem notorisch untreuen Mann in ihr Haus auf dem Land zurückgezogen hat. Da ist Lydia, Lukes Mutter, die ihre kurze Affäre mit einem anderen Mann dazu genutzt hat, von ihrem gewalttätigen Ehemann loszukommen und das wiederum mit dem Preis der sozialen Ächtung bezahlt. Da ist Luke, der unschuldig im Gefängnis gelandet ist, weil seine Mutter den entscheidenden Moment verpasst hat, sich als mutig zu erweisen. Und da sind auch Rebecca und Kelly, ein lesbisches Paar, das an der Westküste ein Motel führt; jenes Motel, in das June sich auf ihrer Flucht vor der Wirklichkeit über Monate hinweg zurückzieht und das wiederum auch für ihre Tochter Lolly und deren Verlobten eine ganz besondere Bedeutung hatte.

Die Szenarien greifen geradezu mechanisch präzise ineinander, und es ist eine Unart von Bill Clegg, sein Personal permanent mit Erklärungen und Selbstdeutungen zu überfrachten. Die gelungenen Figuren in diesem Roman, und die gibt es, sind diejenigen, über die wir wenig wissen, weil Clegg ihnen einen Rest an Unaufgeklärtheit über sich selbst gestattet. Im Kern ist "Fast eine Familie" ein im amerikanischen Sinn erzkonservatives Buch, denn zu all den dysfunktionalen, gescheiterten oder gar zerrütteten Familien setzt Clegg recht grobmotorisch einen Kontrapunkt, und das ist die Familie von Will, Lollys Verlobten. Lolly, so heißt es einmal, habe Will nur ausgewählt, um dessen Familie betrachten zu können, "als würde sie die Nase an die Glaswand eines Aquariums pressen und exotischen Fischen beim Schwimmen zuschauen." Nur wer in den gesunden Strukturen einer Familie aufgeht, kann also auch in sich selbst gesund und lebensbereit sein.

Am Ende ist, versteht sich, alles geklärt und aufgelöst. Dass Clegg seinen immerhin für den Man Booker Prize und den National Book Award nominierten Roman in einer rührseligen Erlösungsszene aufgehen lässt, ist dann endgültig zu viel des Versöhnlichen.

© SZ vom 02.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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