Amerikanische Literatur:Die Reste der Zukunft

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Radikal subjektiv, umstandslos direkt: Joan Didions Reportage-Notizen von einer Reise durch den Süden der USA im Jahr 1970 schienen damals in die Vergangenheit zu führen. Aber wer sie jetzt liest, erkennt darin die Gegenwart.

Von Frauke Meyer-Gosau

Als Joan Didion im Sommer 1970 mit ihrem Mann, dem Schriftsteller John Dunne, von Los Angeles aus zu einer einmonatigen Tour durch den Süden der USA aufbricht, ist sie 36 Jahre alt. Sie hat in Berkeley studiert und in New York für die Vogue gearbeitet, sie hat bereits zwei Romane und einen Essay-Band veröffentlicht und wird für ihre Reportagen gefeiert, die im Rolling Stone oder im New Yorker erscheinen. Dass sie zum Zeitpunkt ihrer Reise 43 Kilo wog, ihre Haare glatt herunterwachsen ließ, gern in Hotel-Pools schwimmen ging und dabei Bikinis trug, ist jetzt ihren damaligen Reise-Notizen unter dem Titel "Süden und Westen" zu entnehmen - präzise Angaben zur Reporterin selbst gehören hier immer mit dazu. Radikal subjektiv und umstandslos direkt ist Joan Didions Stil in diesem Buch: Sie nimmt eine Szene oder Person in den Blick, hört Unterhaltungen mit, meist staunend, selten explizit ablehnend, und steuert sogleich auf den Kern des Geschehens zu, ausgerüstet mit einem sehr trockenen Humor.

Ihre Aufzeichnungen fertigte Didion jeweils am Ende eines Reisetages an. Vage hatte sie vorgehabt, eine Reportage über ihre Fahrt durch Louisiana, Mississippi und Alabama zu schreiben, hatte diesmal aber keine Termine mit Interview-Partnern gemacht. Sie wollte sich treiben lassen: "Wir hatten vor, in New Orleans anzufangen, und danach hatten wir keinen Plan." Und so gelangt sie in Hotels und Restaurants, in Wasch- und Kosmetiksalons, zu lokalen Sehenswürdigkeiten wie einer im Schlamm versinkenden Reptilienfarm, in der die Tiere in Umzugskartons hausen. Ein andermal gibt es in Biloxi, wo gerade die Tagung der Rundfunksender Mississippis stattfindet, einen "Ladys Brunch". Während die lokale Band spielt - Hits der Jackson Five und von Simon & Garfunkel -, hört Didion, wie eine junge Frau eine andere einlädt, sie doch mal in ihrem nicht weit entfernten Wohnort zu besuchen. "Wir werden nie da raufkommen", antwortet die. "Ich war nie irgendwo, wo ich gern hingewollt hätte." Eine andere sagt auf die Frage, ob sie beim Autofahren Radio höre, verblüfft: "Fahren? Wohin denn?"

Städtebewohnerin: Joan Didion im Jahr 1977. (Foto: Everett Collection/dpa/picture alliance)

Es sind Bilder einer großen Trägheit, auch Schlaffheit, einer inneren wie äußeren Unbeweglichkeit, die bei diesen Fahrten übers Land entstehen: ein fast willenloses Verharren im Augenblick, und das hat natürlich auch mit dem Klima zu tun, der lastenden Hitze und Feuchtigkeit. "In New Orleans ist die Luft im Juni schwer von Sex und Tod", schreibt Didion, "kein brutaler Tod, aber Tod durch Verfall, Überreife, Verrotten, Tod durch Ertrinken, Ersticken, Fieber unbekannter Herkunft." Sie selbst hat, als sie losfährt, kein konkretes Bild vom Süden, sondern nur eine vage "Ahnung von Paranoia, fiebriger Verschwörung und grotesker Manipulation".

Und sie hat "das dunkle und unausgereifte Gefühl (...), dass der Süden und besonders die Golfküste für Amerika einige Jahre lang das gewesen war, was, wie die Leute immer noch sagten, Kalifornien war und für mich gerade nicht zu sein schien: die Zukunft, die geheime Quelle negativer und positiver Energie, das psychische Zentrum". Die Reste dieses Zukunftspotenzials will sie beobachten.

In den Kinos läuft überall der Film "Verdammt, verkommen, verloren - The Losers"

Und findet Anzeichen kurioser Begriffslosigkeit, wenn zwei Frauen im Café sich darüber unterhalten, wer eigentlich schuld am Wetter ist. Ein Mann, der mal in einer Wetterstation gearbeitet hat, hat Miss Clarice versichert, "dass sie für das, was über das Radar hereinkommt, nichts können". Die andere stimmt zu: "Sie können dafür einfach nicht verantwortlich gemacht werden. (...) Es kommt über das Radar herein." In den Kinos läuft derweil überall derselbe Film, "Verdammt, verkommen, verloren - The Losers". Die einst prächtige Architektur kleiner Ortschaften verfällt, die Nicht-Privilegierten leben in Trailer-Parks. Autos stehen mit laufendem Motor am Straßenrand, kein Fahrer weit und breit, Eisenbahnschienen kreuzen sich in jeder größeren Häuser-Ansammlung - "im Süden ist man sich der Züge ständig bewusst. Hier herrscht wahrhaftig eine frühere Zeit". Und in den Hotel-Pools wachsen Algen, Kippen dümpeln herum, einmal kann Didion wegen eines Elektronik-Fehlers beim Schwimmen das örtliche Radioprogramm verfolgen.

Die weißen Großgrundbesitzer, die ihr Land seit Generationen von schwarzen Pächtern haben bewirtschaften lassen und mit deren Kindern aufgewachsen sind, werden als Erwachsene nun von den früheren Spielgefährten bedient. Dass aber immer mehr Schwarze den Süden verlassen, führen sie nicht auf die intensiv betriebene Mechanisierung der Landwirtschaft zurück. Die Leute sind, wer weiß, warum, irgendwann einfach nach Detroit gegangen. Im Vorbeifahren liest Didion die Aufschrift "KKK" für Ku-Klux-Klan auf einem Verkehrsschild.

Mrs Didion mit ihrem herunterhängenden Haar im Bikini am Pool erregt Aufsehen

Allesamt weiße, freundliche Menschen sind das, die im Jahr 1970 alles so weitermachen, wie es immer schon war: traditionsbewusste Kirchgänger mit einem gelassenen Hang zum Verkommenen, verzögert in allem, immer schon reich oder immer schon arm, und wenn auf der Speisekarte eines Restaurants "Italienischer oder Spaghettifressersalat" steht, war das sicher auch schon immer so. Nur Mrs Didion mit ihrem herunterhängenden Haar im Bikini am Pool erregt Aufsehen, denn hier sind die Mädchen mit 17 verheiratet und tragen dann ordentlich eingelegte Frisuren. Woanders fühlen sie sich einfach nicht wohl, so ist das.

Aus der großen Reportage über den Süden ist am Ende nichts geworden, Joan Didion hat das Projekt nicht weiter verfolgt. Dass aber wenigstens ihre Notizen im Vorjahr in den USA doch noch erschienen sind, macht uns nicht nur mit einem großartigen, von Antje Ravic Strubel in Ton und Haltung kongenial übersetzten Stück Journalismus bekannt. Es antwortet heute ganz unerwartet auch auf Didions Zukunfts-Ahnung aus den Siebzigerjahren: Wie anders, als wenn man diese Grundgestimmtheit fürs ganze Land zugrunde legt, wäre schließlich der Wahlsieg Donald Trumps zu verstehen? Was Joan Didion wie eine Rückreise in die Vergangenheit erschien, entpuppt sich als ein Blick in die Zukunft: unsere Gegenwart.

Joan Didion: Süden und Westen. Notizen. Aus dem Amerikanischen von Antje Ravic Strubel. Ullstein Verlag, Berlin 2018. 159 Seiten, 18 Euro. E-Book 14,99 Euro.

© SZ vom 07.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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