Amerikanische Literatur:Albern, wer da weint

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Ein neuer Auswahlband mit Erzählungen der 2004 verstorbenen Autorin Lucia Berlin bestätigt ihren Rang als Meisterin der Short Story.

Von Tobias Lehmkuhl

Als im vergangenen Jahr eine Auswahl von dreißig Kurzgeschichten der 2004 verstorbenen Autorin Lucia Berlin auf Deutsch erschien, war die Begeisterung einhellig. Vergleiche mit den ganz Großen des Genres wurden gezogen, man fühlte sich an Anton Tschechow, Raymond Carver und Alice Munro erinnert, und auch die nun schnell nachgelegte, etwa halb so umfangreiche zweite Auswahl aus Lucia Berlins Œuvre straft die euphorisierten Kritiker nicht Lügen. Ihre Storys sind sprachlich fein geschliffen, die Figurengestaltung zeugt von analytischem Scharfblick, die Sujets sind geschickt gewählt. Wie schon in "Was ich sonst noch verpasst habe" von 2016 geht es auch in "Was wirst du tun, wenn du gehst" vor allem um Frauen am Rande der Gesellschaft, Lehrerinnen mit einem Hang zu Männern, die kaum der Schule entwachsen sind, um Alkoholabhängigkeit, Einsamkeit, um die Liebe zu Kindern und die Schwierigkeit, alleine für sie zu sorgen.

Die Erzählungen verleiten dazu, dass man sich in ihrer perfekten Machart allzu bequem einrichtet

Eine der schönsten Geschichten des Bandes, "Albern, wer da weint", handelt von der seltsamen Parallelität von Leben und Tod, genauer: vom Sterben einer Frau und dem fürsorglichen Beschweigen dieses Sterbens durch ihre Schwester. Die Erzählung spielt übrigens in Mexiko City. Lucia Berlins enger Bezug zur spanischsprachigen Welt wird immer wieder deutlich - so sind die einzigen Autoren, die in diesen Geschichten namentlich genannt werden, Ramón María del Valle-Inclán und Ramón José Sender. Als Kind hat Lucia Berlin, die 1936 in Alaska geboren wurde, eine Weile in Santiago de Chile gelebt, ihr Studium hat sie von 1955 an in Albuquerque an der Universität des amerikanischen Bundesstaates New Mexico absolviert. Sie selbst hatte von drei verschiedenen Männern vier Kinder, die sie meistenteils alleine großzog. Ihre Geschichten sind also nicht nur sehr gut, sie sind zudem noch beglaubigt durch ihre eigene Biografie. Und hier beginnt auch das Problem, ein Problem, das keines der Geschichten selbst ist, sondern eines ihrer Rezeption.

In ihrer Art sind Lucia Berlins Storys geradezu perfekt, perfekte Beispiele für die Kurzgeschichtenkunst des zwanzigsten Jahrhunderts, jede einzelne wert, als Vorlage in Creative-Writing-Kursen verwendet zu werden. Sie sind ästhetisch, ja auch politisch (Frauen am Rande der Gesellschaft) unangreifbar. Jeder Leser wird von ihnen auf die eine oder andere Art berührt werden. Sie verleiten allerdings dazu, dass man sich in ihrer perfekten Machart bequem einrichtet. Wir lesen darüber, wie wieder mal eine Beziehung scheitert, fühlen uns dabei künstlerisch aber auf der sicheren Seite, fast geht ein wohliges Gefühl mit der Lektüre einher.

Es ist ein wenig wie mit den reich bebilderten Sozialreportagen in Hochglanzmagazinen, die man im Wartezimmer des Zahnarztes liest. Die Geschichten, obwohl sie so viel Dreck und Traurigkeit enthalten, hinterlassen keinerlei schlechten Geschmack. Man wünscht ihn sich auch gar nicht. Aber er ist Teil unserer Realität. Und indem er diesen schlechten Geschmack nicht mit sich bringt, kommt der Sozialrealismus Lucia Berlins eben doch an seine Grenzen.

© SZ vom 05.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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