Amerikanische Gegenwartsliteratur :Im Sog der Vorstadt

Lesezeit: 4 min

Eileen gehört zu den Witwen, deren Männer noch leben, und arbeitet im Krankenhaus. Matthew Thomas erzählt in seinem Debüt "Wir sind nicht wir" vom angestellten amerikanischen Mittelstand.

Von Ulrich Baron

Was ist Alzheimer?", fragt Ed, und für einen Augenblick stockt Eileen Leary der Atem. Alzheimer ist die Krankheit, an der ihr Mann schon mit Anfang fünfzig zugrunde geht. Da sieht sie sein schelmisches Grinsen, sieht es vielleicht zum letzten Mal: "Lieber Gott", denkt Eileen, "bewahr ihm das noch. Wenn du Ideen brauchst, was als erstes an die Reihe kommen soll, kann ich dir eine Liste machen."

Ihr Leben in New York hatte sich die Tochter irischer Einwanderer anders vorgestellt. Der sanftmütige Ed hätte als Hirnspezialist Karriere machen, zumindest Dekan werden sollen, statt alle guten Angebote auszuschlagen und stattdessen Abendkurse in Anatomie zu geben. Und ihr Sohn Connell hätte kein Einzelkind sein und angesichts des kranken Vaters nicht an die Universität von Chicago fliehen sollen.

Den Verfall einer Familie spielt Matthew Thomas in seinem Debüt mit einer Minimalbesetzung durch. "Sie hielt die Stadien seines Verfalls in einer Art gegenläufigem Kindertagebuch fest", heißt es über Eileen. Und über den Kranken, der hier aufhört, er selbst zu sein: "Er ging barbarisch mit ihr um, und wenn Connell ihn zur Rede stellte, leugnete er alles wie ein hinterhältiger Junge". Seinen Sohn hat Ed Leary vielleicht mehr geliebt als seine Frau; und manchmal versucht er, Connell zu zeigen, was er selbst bald nicht mehr kennen wird. "Schon seit geraumer Zeit glitt sein Vater in sein altes Selbst hinein und wieder hinaus, als geistere er durch höhere Sphären."

Ein Graffito des Künstlers Banksy in Woodside, Queens, wo Matthew Thomas seinen Debütroman über den Verfall einer Familie ansiedelt. (Foto: Jason Szenes/dpa)

Matthew Thomas schildert die fortschreitende Demenz des Vaters weit weniger beschönigend als etwa Arno Geiger in "Der alte König in seinem Exil", hat aber ebenfalls einen königlichen Titel gewählt. Sein "We Are Not Ourselves" zitiert Shakespeares "King Lear". Und er zeigt, wie die Krankheit auch die Gesunden entstellt. Einmal behandelt Connell seinen Vater so rücksichtslos, als wäre der schon tot, doch die Krankheit lässt sich nicht zum Komplizen machen: "Er hoffte kurz, dass sein Vater den Vorfall vergessen würde, aber so funktionierte die Krankheit nicht."

Das Vergessen ist in diesem Roman nicht gnädig, und so eindrucksvoll und pointiert Matthew Thomas Eds Persönlichkeitsverlust fokussiert, so gekonnt hat er zugleich diese tragische Geschichte in eine größeren Erzählzusammenhang eingesponnen, so dass die deutsche Ausgabe fast neunhundert Seiten beansprucht, ohne je weit- oder abschweifend zu werden.

In dieser größeren Geschichte sind Ed und Connell nur Nebenfiguren im Leben einer couragierten Frau, die sich das eigene Haus erkämpft, zu dem es ihr Vater nie gebracht hat, und der es trotz Eds Erkrankung gelingt, das Haus gegen ein besseres Anwesen im Speckgürtel der Stadt zu tauschen. Doch als irischstämmiger Katholikin wird Eileen der amerikanische Traum immer nur aus zweiter Hand angeboten.

Matthew Thomas, in der New Yorker Bronx geboren, wuchs im Stadtteil Queens auf. Sein Romandebüt wurde in den USA zum Bestseller. (Foto: picture alliance/dpa)

Matthew Thomas hat eine Schlüsselszene seines Romans in dessen Vorspiel versteckt. Da erzählt eine Nonne der Achtklässlerin Eileen und ihren braven Mitschülerinnen, wie das Viertel Woodside aus einem großen Landgut entstand, das ein geschäftstüchtiger Immobilienhändler habe roden lassen.

Natürlich hatten damals, wie so oft in der New Yorker Stadtgeschichte, höhere Mächte die Hand im Spiel. Dank der göttlichen Vorsehung nämlich habe die Stadt 1924 dort Sozialwohnungen und Häuser bauen lassen, schwärmt die fromme Frau. Aber Eileen mag nicht an die Armen und nicht an Vorsehung denken, sondern träumt von dem abgerissenen Herrenhaus, das sie auf Bildern bewundert hat.

Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist hier längst parzelliert. Während Eileen als Schwester im Krankenhaus arbeitet und Karriere in der Verwaltung macht, Ed sich in Forschung und Lehre einigelt und beide versuchen, "sich den Weg durch das Dickicht des Mittelklassedaseins zu bahnen", erreichen neue Einwanderungswellen ihr zuvor von Iren und Italienern bewohntes Viertel. Eileen wird ihr erstes Haus schließlich - gegen den Widerstand ihres zu diesem Zeitpunkt bereits kranken Mannes - an eine indische Familie verkaufen, denn Woodside ist keine gute Adresse mehr: "Man spürte den Sog der Vorstädte . . . Die meisten ihrer Lieblingsgeschäfte waren gewichen, ersetzt durch Ramschläden, T-Shirt-Läden, Schwarzmarkthändler für Feuerwerk, exotische Friseursalons hinter dunklen Vorhängen."

Im "Dickicht des Mittelstandes" helfen heute James Fenimore Coopers Waldgänger so wenig weiter wie Mark Twains Lotsen oder Willa Cathers Pioniere. Deshalb wendet sich Eileen an deren legitime Nachfolgerin, eine agile Immobilienmaklerin namens Gloria. Dass sie die Initiative übernehmen muss, war Eileen eigentlich schon vor Eds Erkrankung klar gewesen, ja schon lange vor ihrer Ehe. Ihre Eltern waren Trinker, doch ihr Vater "Big Mike" Tumulty war ein nicht nur physisch beeindruckender Mann gewesen - er gehörte dem Typus an, aus dem man Anführer macht, Gewerkschaftsbosse, Politiker. Seine Stärke aber, seine Autorität hatte er nur im engen Rahmen zu entfalten vermocht, bevorzugt in Doherty's Bar.

Im Gesundheitssystem der Ära Giuliani arbeitet Eileen an ihrer kleinen Karriere

Eileens Mann Ed ist weit mehr von seiner Arbeit als vom Erfolg besessen und hat nicht ahnen können, dass die bescheidene, aber lange Karriere, die ihm vorschwebte, schon zu Ende sein könnte, bevor er sich nennenswerte Pensionsansprüche erarbeitet hatte. Nimmt man hinzu, dass auch Eileens Karriere sich im Rahmen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge abspielt, so kann man "Wir sind nicht wir" auch als großes Epos des abhängig beschäftigten Mittelstandes bezeichnen.

Matthew Thomas: Wir sind nicht wir. Aus dem Englischen von Astrid Becker und Karin Betz. Berlin Verlag 2015. 896 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 18,99 Euro. (Foto: N/A)

Weiblicher Pragmatismus verdrängt hier männliche Selbstherrlichkeit; zumindest partiell: "Die Anweisung aus dem Büro des Oberbürgermeisters Giuliani an das mittlere Management in Krankenhäusern war klar", heißt es da aus Eileens Perspektive: "Sie sollten ihre Mitarbeiter bis zum Umfallen schuften lassen - nur so funktionierte das Gesundheitssystem." Doch Eileen hat Wichtigeres zu tun, als sich darüber zu empören: "Sie war keine normale Ehefrau mehr, sondern gehörte nun zu der kleinen Gruppe von Witwen, deren Ehemänner noch lebten."

Das Leben seiner Protagonisten erschiene unspektakulär bis langweilig, drohte ihm nicht jenes große Vergessen, das vordergründig zunächst nur Ed Leary erfasst hat. Aber Matthew Thomas schreibt darin auch die Geschichte einer verschwindenden Lebenswelt und die Geschichte jener verloren gehenden mittelständischen Gewissheit, mit einer guten Ausbildung auch einen guten Job und dafür eine gute Bezahlung zu bekommen: "Als Eileen im November 1941 geboren wurde, waren noch Spuren der Wälder zu erkennen, die im Namen ihres Viertels anklangen."

Vom Wald von einst steht nur noch der Name, aber das, von dem man weiß, dass man es bald nicht mehr haben wird, wird hier Bild: "Es ist so schön" sagt Ed einmal, nachdem er Connell im Metropolitan Art Museum Bilder eines seiner Lieblingsmaler gezeigt hat: "Was ist so schön?" fragt der. "Dies", antwortet ihm sein Vater mit einer weit ausholenden Geste: "Alles." Aus einer so kleinen, intimen Szene heraus und mit so wenigen, kurzen Wörtern so weit ausholen zu können, beweist, dass dies nicht nur ein dicker, sondern ein großer Roman und dass Matthew Thomas ein begnadeter Epiker ist.

© SZ vom 03.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: