Akkordeon-Avantgarde:Hinhören!

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Beim Club Transmediale in Berlin wurde die 83-jährige Komponistin Pauline Oliveros für ihre digitale Anschlussfähigkeit gefeiert.

Von Jan Kedves

Virtuelle japanische Holografie-Popstars und digitaler Panikattacken-Blues: Beim "Club Transmediale", dem musikalischen Begleitprogramm zur Berliner Digitalkonferenz "Transmediale", die am Wochenende zu Ende ging, wurde viel geboten. Vor allem wurde eine 83-jährige Akkordeonistin gefeiert. Wem das paradox erscheint, der hat von den Begeisterungsdynamiken in der digitalen Gegenwart noch nicht viel mitbekommen. Auf der Suche nach "Adventurous Sounds", abenteuerlichen Klängen, blickt man beim CTM nicht nur in die Zukunft, sondern auch zurück zu den Avantgarden der Sechzigerjahre, deren Schaffen dank Internet heute präsenter ist als noch zu analogen Zeiten.

So wurde in diesem Jahr Pauline Oliveros, 1932 in Houston, Texas, geborene Pionierin der elektronischen Musik, eine von Alvin Lucier und John Cage geschätzte Komponistin, für gleich vier Termine nach Berlin geladen: zwei Konzerte, ein Podiumsgespräch und eine von ihr geleitete Hörmeditation. Dazu später. Zunächst schnallte sich Oliveros im Hebbel-Theater ihr ferrarirotes Roland-V-Akkordeon um -"V", weil es sich per USB-Port in ein Laptop stöpseln lässt. Die Luftströme des Instruments schickte sie durch digitale Echoschleifen und Verfremdungseffekte, was die Ohren angenehm ins Schlackern brachte. Ihre Konzerte waren ausverkauft, das Publikum zwischen 20 und 70.

Anfang der Sechzigerjahre gehörte Oliveros zur Gründungsbelegschaft des "San Francisco Tape Music Center", wohin es auch Steve Reich und Terry Riley zog - ein amerikanisches Pendant zum "BBC Radiophonic Workshop" in London und dem Kölner WDR-Studio für elektronische Musik. Später, als Professorin an der University of California, entwickelte sie eine Theorie der Aufmerksamkeitssteuerung: Es gibt "Hearing" (unbewusstes Hören) und "Listening" (bewusstes Zuhören). Letzteres ist anzustreben, was aber in heutigen Zeiten, in denen es so viel Beschallung gibt wie nie zuvor - und Popalben auch umsonst und ungefragt auf dem Rechner oder dem Handy aufpoppen (zuletzt Rihannas "Anti") - durchaus nicht einfach ist.

Die Musikerin scheint derweil wie eine Art Heilerfigur verehrt zu werden: Beim Podiumsgespräch vor dem ersten Konzert fragte jemand: "Was raten Sie Menschen, die an Tinnitus leiden?" Oliveros antwortete trocken und amüsiert: "Ich bin keine Medizinerin. Aber vielleicht sollten sie mal richtig in den Tinnitus reinhorchen, statt ihn immer mit anderen Klängen übertönen zu wollen." Applaus.

Danach setzte sie sich zwischen den libanesischen Experimental-Trompeter Mazen Kerbaj und die irische Komponistin Karen Power. Was Power an ihrem Laptop zum Trio beisteuerte, blieb unklar, Kerbaj präparierte sein Instrument mit aufgestülpten Gummischläuchen und vor den Trichter gehaltenen Frisbeescheiben so, dass es nicht nur schön aussah, sondern auch interessant blubberte, knackte und pfiff. Dessen Klänge ergänzten sich ausgezeichnet mit Oliveros' Akkordeon, aus dem es mal schwer gewitterte oder spukig-tippelnde Klänge gab wie bei Tom und Jerry in der Geisterbahn.

Einen Abend später trat Oliveros mit ihrer Lebensgefährtin auf, der "Spoken Word"-Performerin Ione. Deren Geschichte von lilafarbenen Wasserströmen und bösen Bergwinden wirkte zwar konventionell, auch esoterisch, doch Oliveros transponierte Iones Stimme digital nach oben und unten, was sogar anschlussfähig an aktuelle Pop-Produktionen war. In denen wird - von Sophie bis Kelela - auch oft das Geschlecht der Stimmen variiert.

Die Hörmeditation am dritten Tag war dann so etwas wie ein akustischer Reboot: Für je 20 Euro Eintritt, die an eine Flüchtlingsunterkunft in Kreuzberg gespendet werden, durften 100 Menschen in Anwesenheit von Oliveros eine Dreiviertelstunde lang schweigen. Die Künstlerin führte aus, man solle die Stille, die dann natürlich doch aus Magenknurren, Lampensurren und dem eigenen Tinnitus bestand, nicht bewerten, sondern nur: zuhören. Oliveros verabschiedete sich aus Berlin also mit einer langen Pause. Die sollte gar keinen Werkcharakter haben wie etwa John Cages "4'33", und doch waren die Teilnehmer davon so begeistert, dass sie am Ende wieder ausgiebig applaudierten.

© SZ vom 09.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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