Abenteuer:Nächte in Lissabon

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Neue Abenteuer mit Gorilla Sally Jones, die selbst aufschreibt, was sie mit ihrem Chef und Freund in Lissabon erlebt.

Von Siggi Seuß

Die gute Sally Jones, da ist sie wieder, die treue Seele aus dem Abenteuerbilderbuch Sally Jones - Eine Weltreise in Bildern des Schweden Jakob Wegelius - für mich eines der schönsten Kinderbücher des Jahres 2009. Sally Jones ist ein liebenswertes Geschöpf, das aus dem Herzen Afrikas auf verschlungenen Wegen nach Europa geriet. Seither schippert sie an der Seite eines finnischen Seemanns und Schiffseigners als Maschinistin auf der Hudson Queen, einem kleinen Frachtdampfer, über die Weltmeere.

Was Sally Jones' Vita so bemerkens- und erzählenswert macht, ist nicht nur die Tatsache, dass sie eine Gorilladame ist, sondern dass sie sich im Lauf ihres jungen Lebens eine ganze Menge Kulturtechniken angeeignet hat: Lesen, Schreiben, Rechnen, Dampfmaschinen bedienen und reparieren und alle mögliche Handwerke verrichten. Auch ein feiner Sinn für Musik und Literatur ist ihr eigen. Und die Empathie für das Leben ihr naher Menschen stellt die Gleichgültigkeit vieler Zeitgenossen in den Schatten. Anders ist es nicht zu erklären, dass sie sich eines Abends - Mitte der 1920er Jahre - nach getaner Arbeit in ihrer Kajüte auf der Hudson Queen an eine Schreibmaschine der Marke Underwood No. 5, Baujahr 1908, setzt und akribisch von den haarsträubenden Ereignissen berichtet, die ihr und ihrem "Chief" und besten Freund im Lauf der vergangenen Jahre widerfuhren.

Natürlich heißt Sallys Ghostwriter Jakob Wegelius. Er hat die Abenteuer in die gleiche Atmosphäre eingebettet und in Buchkunst verwandelt, wie schon die Weltreise in Bildern. Kein Wunder, dass das Buch mit dem renommierten "Augustpreis" für das beste schwedische Kinderbuch 2014 ausgezeichnet wurde. Man glaubt, einen Originalroman aus den zwanziger Jahren in den Händen zu halten. Wegelius hat Sallys Erzählung mit feinst gestrichelten und pointillierten schwarzweißen Tuschbildchen an den Kapitelanfängen verziert, die aussehen wie historische Buchlithografien - die Frontispizkarten von Sallys Reiserouten nicht zu vergessen. Nur ist dieses Mal kein Bilderbuch entstanden, sondern ein Roman von 620 Seiten, Sally Jones - Mord ohne Leiche. Allein durch die filigranen Bildchen wird man förmlich in die Handlung gezogen, die an Bord der Hudson Queen beginnt und Sally nach dem Untergang des Schiffes nach Lissabon führt, wo sie gezwungen ist, sich längere Zeit niederzulassen. Ihr Chief wird nämlich fälschlicherweise des Mordes an einem Portugiesen bezichtigt, zu 25 Jahren Haft verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Sally Jones ist verzweifelt, findet Trost bei zwei lieben Menschen - der jungen Fabrikarbeiterin Ana Molina, einer leidenschaftlichen Fadosängerin, und ihrem Hauswirt Luigi Fidardo, einem begnadeten Instrumentenbauer. Keine Frage, dass Sally Jones erst einmal zur Ruhe kommen muss und dabei das Handwerk des guten Luigi kennenlernt, bevor sie sich auf den Weg um die halbe Welt macht, um Chiefs Unschuld zu beweisen. Die Reise führt bis in die intimsten Gemächer im gigantischen Palast des Maharadschas von Bhapur im nordindischen Punjab.

Die Welt des Jules Verne wird lebendig und die seiner genialen Illustratoren Léon Benett und Édouard Riou, die Poesie von Kinderbuchklassikern wie Der Wind in den Weiden, die Welt der Abenteuerromane von B. Traven, ja, auch eine kräftige Prise Pulp Fiction kommt hinzu, wie in den Reiseromanen von Karl May. Naturromantik, Poesie, Liebe, Neid, Eifersucht, Gier, Intrige, Verbrechen, Verrat - Wegelius spielt virtuos auf der Klaviatur der klassischen Abenteuer-, Reise- und Kolportageromane, die spätestens seit dem Fin de Siècle die Leser massenweise in den Bann gezogen haben.

Nachdem man Sallys, von Gabriele Haefs fabelhaft ins Deutsche übertragene Geschichte atemlos verfolgt hat, möchte man sich am liebsten in einer Ecke des Tamarind, einer Kneipe in der Rua de São Miguel, niederlassen und nur noch dem sehnsüchtigen Fado von Ana Molina lauschen, den sie dort an ihren freien Samstagabenden zum Besten gibt. (ab 12 Jahre)

Jakob Wegelius: Sally Jones - Mord ohne Leiche. Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs. Gerstenberg 2016. 620 Seiten, 19,95 Euro.

© SZ vom 08.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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