Neues Buch von Don DeLillo:Die Apokalypse ist auch schon vorbei

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Don DeLillo, der große Chronist der spätmodernen Paranoia, erweist sich in seinen Erzählungen abermals als Meister der "zeitgeist anxiety". Und doch ist der Band "Der Engel Esmeralda" für seine Verhältnisse erstaunlich menschenfreundlich.

Christoph Bartmann

Man kann Don DeLillo nicht vorhalten, seine Bücher spielten in einer heilen Welt. Im Gegenteil, es ist etwas verlässlich Ungemütliches an seinen Szenarien, etwas unterschwellig Bedrohliches, das seine Leser hellhörig macht für Katastrophen. Selten nehmen sie bei DeLillo konkrete Gestalt an, eher sind sie gegenwärtig in der Zeitform der Angst. Man hat DeLillo als den Meister der "zeitgeist anxiety" beschreiben.

In seinen Büchern schlagen sich die epochentypischen urbanen Bedrohungstopoi nieder, Weltkriege, Terrorismus, Finanzkrisen und anderes mehr. Nicht dass DeLillo die Angst schürt - dafür ist sein Blick auf die Dinge zu distanziert, ja abständig. Mal schaut der Autor aus dem Weltraum auf das irdische Geschehen, mal geht er wie mit dem Seziermesser an die Ereignisse heran, immer aber hat man das Gefühl, der Erzähler bewahre eine konstitutive Fremdheit gegenüber seiner Welt. Die Welt mag schrecklich sein, aber solange es jemanden gibt, der sie mit dieser Klarheit, Kühle und Schärfe beschreibt, kann sie nicht verloren sein.

DeLillo ist auch deshalb ein so suggestiver Erzähler, weil er sich auf die Kunst des einzelnen Satzes versteht. Immer wieder stehen, leuchtend isoliert, Sätze in seinen Geschichten, die ohne Anschluss sind: "Alles auf der Welt ist entweder drinnen oder draußen", heißt es einmal. Solche Sätze verstärken den Geist der Einsamkeit, den diese Texte verbreiten, gerade wenn sie unter die Menschen gehen. Natürlich bergen solche einsamen Sätze auch eine Gefahr. Sie überhöhen eine Leere, die tatsächlich von einer Schwäche kündet, die Erzählung mit konventionellen, also wahrscheinlichen Mitteln weiter zu entwickeln.

Nun gibt es neun ältere und neuere Erzählungen in einem Band. Die Geschichten entstanden zwischen 1979 und 2011, teilweise flossen sie in größere Projekte wie den Roman "Unterwelt" ein, teils blieben sie unveröffentlicht. Mit "Unterwelt", einem Roman von epochalen Ansprüchen, hatte sich DeLillo als einer der Großmeister des postmodernen Romans etabliert. Seitdem ist es stiller geworden um ihn . Romane wie "Falling Men" oder "Cosmopolis" aus dem vergangenen Jahrzehnt, fanden, obwohl reich an Zeitdiagnostik und vor allem -prognostik, nicht mehr dieselbe Zustimmung.

Geradezu hymnisch begrüßt

Etwas an DeLillos Dauerbetrachtung der amerikanischen Dystopie schien von den Tatsachen überrollt worden zu sein. Die Fiktionalisierung von 9/11 oder des Finanzdesasters mit den gewohnten postmodernen Mitteln kommt an eine Grenze angesichts der Fiktionalität der realen Ereignisse selbst. Plötzlich schien DeLillo, sonst ein Meister der literarischen Geistesgegenwart und Zeitgenossenschaft, nicht mehr auf der Höhe der Zeit.

Die Frage ist, ob dieser Erzählungsband den Eindruck einer leise schwindenden Relevanz von DeLillos Chronistentum entkräften kann. Martin Amis und andere prominente Kollegen haben das neue Buch geradezu hymnisch begrüßt. Amis hat diese Geschichten "luftig und kompakt, zugespitzt und geheimnisvoll" genannt, eine Wertung, der man zustimmen möchte, ohne doch ein gewisses Unbehagen an DeLillos Markenzeichen, eben dem Unbehagen, unterdrücken zu können.

Die neun Erzählungen weisen unverkennbar eine Familienähnlichkeit auf, sie sind in ihrer leisen, latenten Dramatik und ihrer Art, eine Bedrohungs- und Gefahrenlage zu umspielen, unschwer miteinander in Beziehung zu setzen. Trotzdem handelt es sich dann manchmal tatsächlich nur um kleine, atmosphärisch starke, aber inhaltlich nicht besonders ergiebige Stücke. So etwa die erste Erzählung, "Schöpfung", in der ein Touristen-Ehepaar zum Zwangsurlaub auf einer Karibikinsel verdammt ist, weil das Flugzeug nach Hause überbucht ist.

Irgendwann überredet der Mann seine immer nervöser werdende Frau, allein die Heimreise anzutreten, während er sich in eine kleine Affäre mit Christa stürzt, einer deutschen Ferienbekanntschaft. Alles scheint ganz einfach: "Wenn alles neu ist, liegt der Spaß auf der Haut." Ein Satz wie von James Bond. Am Pool gibt es Drinks. Natürlich führt der Flirt nirgendwohin. Bald wird ein Flugzeug die gestrandeten Urlauber nach Hause bringen. Viel ist nicht passiert, außer dass ein paar Menschen für ein paar Tage wie durch eine Tapetentür in ein anderes Leben getreten ist, ein Leben, das auch wieder dystopisch ist.

Selten oder nie löst sich bei DeLillo etwas auf, schon gar nicht zum Guten. Immer bleibt Beklemmung übrig. So auch in "Der Läufer", wo die Titelfigur bei ihren Runden durch den Park bemerkt oder auch nur matt registriert, wie unten am See offenbar ein Kind entführt, jedenfalls in ein Auto gezerrt und weggebracht wird. Der Läufer greift nicht ein, und später fühlt er sich "wie von der Szene abgespalten, als beobachtete er alles von einem verborgenen Ort aus". DeLillo konzentriert sich ganz auf die Beschreibung des Abstandes, der den Läufer und Augenzeugen von dem beobachteten Geschehen trennt. Das gibt Erzählungen wie dieser eine schmerzhaft frustrierende Note: etwas Gravierendes ist geschehen, aber wir haben es, während wir es gesehen haben, auch schon versäumt.

Von den vielen denkbaren Natur- und Zivilisationskatastrophen, die jemand von DeLillos literarischer Statur beschäftigen, ist das Erdbeben, gewissermaßen formal, eine der interessantesten. In der Erzählung "Die Akrobatin aus Elfenbein" geht es um eine Amerikanerin, die in Griechenland lebt und dort Zeugin eines Erdbebens wird. In der Schilderung der gesamten Physiologie der Bebenerwartung und -verarbeitung entfaltet DeLillo sein ganzes Instrumentarium: "Sie lebte in einer Pause", heißt es da. "Sie pausierte immer, wenn sie allein in ihrer Wohnung war, um zu lauschen. Ihr Gehör entwickelte eine Reinheit, eine differenzierende Schärfe. (. . .) Das Zimmer hatte ein Dutzend Klänge, vor allem Tonstörungen." Und weiter: "Die Gefahr lag komplett drinnen." Nicht immer weiß man, wohin diese Geschichten treiben, was sie wollen, und ob sie überhaupt etwas wollen. Sie sind nicht auf Spannung und Drama aus, aber manchmal erreichen sie in einem solchen einfachen Satz ihren Siedepunkt.

Begegnungen zwischen Menschen müssen nichts Schönes sein, jedenfalls nicht bei DeLillo. "Schöpfung", "Der Läufer" oder auch "Baader-Meinhof", wo eine Zufallsbegegnung vor Gerhard Richters berühmten Bilderzyklus in ein Stalking mündet - man darf nicht viel Schönheit im Zwischenmenschlichen von diesen Geschichten erwarten. Trotzdem gewinnt man den Eindruck, als habe sich DeLillo in seinen letzten Erzählungen erstmals überhaupt auf das Soziale besonnen.

Das Soziale als ein Ort, der nicht nur Kälte generiert und wenn schon keine Wärme, dann doch wenigstens Witz: das lässt sich an Geschichten wie "Hammer und Sichel" erleben, in der es um ein Luxus-Guantanamo für Finanzkriminelle geht, oder in der abschließenden Erzählung "Die Hungerleiderin", in der ein Mann sein Leben in einem Kino von Manhattan zubringt - er ist sicher keine soziale Natur im herkömmlichen Sinn, aber doch ein Mann, der sich in dieser kalten Welt auf seine Weise Trost verschafft, stets eingedenk der Worte, die er "vor Jahren in seinem Philosophieseminar gehört oder gelesen hatte: "Jegliche menschliche Existenz ist eine optische Täuschung."

Legt man diesen Satz dem ganzen literarischen Schaffen DeLillos zugrunde, dann hat er in seinen Erzählungen einen weiten Weg hinein in die Menschenfreundlichkeit zurückgelegt.

© SZ vom 10.11.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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