Little Britain:Mit Karte, bitte!

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Wenn die Schlange vor dem Postschalter wächst, wird auch das Gezeter unter den Wartenden größer. Da behauptet doch einer, er könne Weltliteratur schreiben. Und alles nur, weil die Briten zu gerne mit Kreditkarte zahlen.

Von Christian Zaschke, London

Nur drei Leute in der Schlange bei der Post, das sah gut aus. Ich stellte mich an. Ein paar Minuten vergingen, ohne dass sich etwas tat, was daran lag, dass eine junge Frau versuchte, mit Karte zu bezahlen. Die meisten Briten bezahlen auch Kleinstbeträge mit Karte. Wenn es mit der ersten nicht klappt, holen sie eine zweite, dritte und vierte Karte aus dem Portemonnaie. Keine Ahnung, wie sie sich die Pin-Nummern merken. Nach knapp zehn Minuten wurde das ältere Ehepaar vor mir nervös.

Die Frau schnaufte wie ein schlecht gelauntes Gnu. Der Mann grummelte: "In der Zeit kannst du das Book of Kells neu schreiben." Er drehte sich um und schaute mich an: "Das komplette Book of Kells. Zeichnungen inklusive." Die junge Frau am Schalter kramte eine weitere Karte hervor. Hinter mir wuchs die Schlange.

Das Book of Kells ist gut 1200 Jahre alt, es enthält die vier Evangelien. Es ist ein Meisterwerk der Buchkunst. Jeder Buchstabe so fein gemalt. Jede Abbildung der Heiligen ein Gemälde. Heute ist es im Besitz des Trinity College in Dublin, das zwei Seiten dieses Kunstwerks in seiner Bibliothek ausstellt. Ein Schatz.

In die Postfiliale war ich gekommen, weil ich einem Kollegen ein Buch schicken wollte. Er hatte sich ein Bein gebrochen, als er beim Joggen im Richmond Park ausgerutscht war, er wurde operiert, er wurde eingegipst, in einem Sechs-Bett-Zimmer zwischengeparkt und dann entlassen. Seither liegt er zu Hause, leidet und liest. Ich blickte auf mein Paket: ein dünnes Bändchen durchschnittlichen Unterhaltungsgeschreibes.

Wenige Minuten später rückten wir alle eine Position vor. Ein junger Mann gab ein beeindruckendes, schönes und großes Paket ab. Er bezahlte mit Karte. Das dauerte. Der ältere Mann vor mir nuschelte: "Anna Karenina. In der Zeit kannst du die komplette Anna Karenina neu schreiben." Ich starrte auf mein Paket.

Der berühmte erste Satz von Tolstois Roman "Anna Karenina" lautet: "Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise." Ich frage mich, ob nicht vielleicht die Glücklichen genauso wenig gemeinsam haben wie die Unglücklichen. Aber wer würde dem großen Tolstoi widersprechen? Ich starrte auf mein Paket. "Was zum Teufel ist eigentlich mit dem guten alten Bargeld passiert?", rief der Mann.

Dann war das ältere Ehepaar selbst an der Reihe. Eine Weile diskutierten die beiden am Schalter, ob es besser wäre, ihr Paket erster oder zweiter Klasse zu verschicken. Schließlich hatten sie eine wohlabgewogene Entscheidung getroffen. "Ein Pfund zwanzig", sagte die Frau hinterm Schalter, und der Mann zückte seine Karte.

© SZ vom 16.03.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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