Berlinaleblog:Massenhysterie auf dem Cinemaxx-Flur

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Betteln, flehen, kreischen - es hilft alles nichts, wenn der Kinosaal ausverkauft ist. Bei der Berlinale scheint das Publikum derart gehypt, dass es sich plötzlich für Filme interessiert, die jedem Programmkino ein echtes Einnahmeproblem bescheren würden. Oder interessieren sich plötzlich alle für die Zustände in der russischen Armee?

Paul Katzenberger

Wenn schwer verdauchliches Kino massenkompatibel wird: "The Convoy" von Alexey Mizgirev läuft im Panorama der diesjährigen Berlinale. (Foto: Pavel Lungin Studio)

Betteln, flehen, kreischen - es hilft alles nichts, wenn der Kinosaal ausverkauft ist. Bei der Berlinale scheint das Publikum derart gehypt, dass es sich plötzlich für Filme interessiert, die jedem Programmkino ein echtes Einnahmeproblem bescheren würden. Oder interessieren sich plötzlich alle für die Zustände in der russischen Armee?

Der Mensch ist eigentlich ein mit Vernunft behaftetes Wesen, doch bei der Berlinale beschleicht einen manchmal das Gefühl, dass es mit dem Erkenntnisvermögen des modernen Homo sapiens doch nicht so weit her ist. Besonders stark kamen mir diese Zweifel wenige Minuten vor der Vorführung des russischen Filmes "The Convoy", der bei der Berlinale in diesem Jahr in der Sektion "Panorama" läuft.

Das Vorführkino Cinemaxx 7 ist durchaus von stattlicher Größe - gefühlte 500 Zuschauer passen rein - doch in diesem Moment, kurz vor der Vorführung, wäre der zigfach größere Berlinale-Palast wohl die bessere Option gewesen. Etliche Verzweifelte warfen ihre gesamte Würde in die Waagschale und bettelten unverdrossen um Einlass, als die Türsteher bereits zum zehnten Mal beteuert hatten, dass das Kino bis auf den aller-, aller-, allerletzten Platz ausverkauft sei.

Nun ist nichts Unehrenhaftes daran, sich einem schwer verdaulichen Film wie "The Convoy" zu stellen, schließlich gibt es auf der Welt möglicherweise wichtigere Themen als das Berlinale-Highlight "Brangelina".

Doch irgendwie ließ mich das Gefühl nicht los, dass dieser Berlinale-Moment doch eher etwas mit den Irrationalitäten eines gehypten Publikums zu tun haben könnte als mit der ernsthaften Auseinandersetzung mit den Zuständen in der russischen Armee, die "The Convoy" zum Gegenstand hat. Denn warum versammelt sich gerade jetzt und hier auf diesen nüchternen Cinemaxx-Gängen die gesammelte Menschheit und vermittelt den Eindruck, sie habe auf nichts anderes gewartet als "The Convoy"?

Rote Teppiche gibt es auch andernorts

Würde der Film in einem deutschen Programmkino laufen, hätten die Betreiber ein echtes Einnahmeproblem, weil sich mangels Interesse kaum ein Mensch zu ihnen verirren würde. Deswegen dürfte sich auch kaum ein deutscher Verleiher für "The Convoy" finden, schließlich begeht niemand gerne kommerziellen Selbstmord.

Beim goEast-Festival im schönen Wiesbaden, wo Filme wie "The Convoy" gerne gezeigt werden, ist das wunderschöne Jugendstilkino "Caligari" mit seinen 150 Plätzen genauso halbleer wie die Kinos bei vielen anderen Filmfestivals in Deutschland, die sich dem Weltkino verbunden fühlen. Die Quoten von Arte und 3Sat, wo "The Convoy" durchaus demnächst im Programm stehen könnte, bewegen sich notorisch im Unter-Ein-Prozent-Bereich.

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Für die vielen Enttäuschten, die trotz aller Mühen nicht in "The Convoy" gelangt sind, ist das aber eine gute Nachricht. Denn wer sich auch mal auf ein kleineres Festival verirrt, der kann bessere Filme als "The Convoy" sehen, ohne dafür stundenlang für Karten angestanden zu sein. Und rote Teppiche gibt es nicht nur in Berlin.

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