Türkei:Es gibt Grenzen

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Detlef Esslinger plädierte jüngst im Leitartikel dafür, weiter in die Türkei zu fahren, um den kleinen Leuten in der Tourismusbranche dort zu helfen. Leser sehen dafür aber keinerlei Veranlassung.

SZ-Zeichnung: Denis Metz (Foto: N/A)

"Berlin setzt auf Härte gegen Erdoğan" vom 21. Juli und "Auf in die Türkei" vom 15./16. Juli:

Überzeugt und verführt

Detlef Esslingers Plädoyer für Reisen in die Türkei greift leider zu kurz. So mitfühlend seine Argumentation mit den Sorgen des Kellners und seiner Familie sowie dem Mann am Hafenkiosk auch ist, wir dürfen uns nicht gemein machen mit dem Mann, Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der die Türkei step by step in eine islamische Diktatur mit willfährigen Gerichten führen will. Hier muss die strategische Vogelperspektive Vorrang vor der sympathischen Froschperspektive haben.

Knapp die Hälfte der Wähler hat zwar gegen die absolutistische Machtergreifung Erdoğans im Verfassungsreferendum abgestimmt, aber die knappe Mehrheit, darunter auch die große Mehrheit (!) der Türken im demokratisch vorgelebten Deutschland, war dafür. Warum? Weil sie an einen autoritären (dafür aber undemokratischen) Übervater als neuen Sultan mit türkisch-islamischen Großmachtträumen sowie wirtschaftlichen Aufschwung bis in den unteren Mittelstand hinein (stimmte ja auch bis vor einem Jahr) geglaubt haben und überzeugt - vielleicht auch verführt - waren.

Wenn jetzt die Boombranche Tourismus nicht mehr laufen, stark abgeknickt würde, weil die deutschen und andere demokratisch-gesinnte Europäer statt in die Türkei nach Griechenland und in die anderen Mittelmeerländer fahren würden, stünde "der Kaiser bald nackt" vor seinen Bewunderern, weil das bisherige Wirtschaftswunder wie ein Kartenhaus zusammenbräche. Zugegeben, für die Hoffnung, dass danach eine geläuterte pluralistisch-demokratische Türkei sich wieder entwickelt, gibt es keine Garantie. Aber die Hoffnung auf eine demokratisch-weltoffene, laizistische Türkei stirbt zuletzt. Es nicht versucht zu haben, wäre noch viel schlimmer.

Heinbert Janze, München

160 Journalisten im Gefängnis

Es ist sicherlich richtig, dass es auf der Welt zahlreiche Länder gibt, in denen es um die Menschenrechte ebenfalls schlecht bestellt ist und für die es dennoch keine öffentlichen Urlaubsverzichtsaufrufe gibt. Doch einen Vergleich zwischen den türkischen Küstenprovinzen und Südfrankreich herzustellen, erscheint mir als Mitglied des deutschen PEN-Zentrums geradezu infam.

Zwar hat die Chefin des rechtsextremen Front National, Marine Le Pen, beispielsweise im Département Bouches-du-Rhône in der ersten Runde der Wahlen 27,28 Prozent und in der zweiten Runde unrühmliche 42,15 Prozent der Stimmen erreicht, aber deshalb die Türkei der Provence als Urlaubsziel vorziehen zu wollen, ist heuchlerisch.

Diese Ansicht blendet nicht nur aus, dass Südfrankreich mehrheitlich Emmanuel Macron zum Präsidenten gewählt hat; sie negiert auch, dass sich in Frankreich kein einziger Autor oder Journalist aus politischen Gründen in Haft befindet, während in der Türkei derzeit (je nach Zählung und Datengrundlage) mindestens 160 Journalisten inhaftiert sind.

Ralf Nestmeyer, Nürnberg

Ausgesuchte Höflichkeit

Die Analyse von Detlef Esslinger kann ich weitgehend nur bestätigen. Insbesondere den Hinweis, ein Autokrat wie in Thailand habe auf den Tourismus kaum einen negativen Einfluss. Wohl aber ein solcher wie in der Türkei, der mit der halben Welt (insbesondere der Bundesrepublik) Streit anzettelt. Ich bin inzwischen mehr als 30 Mal in die Türkei eingereist: erstmals 1963, damals noch mit Auto und Zelt, zuletzt 2010 in die Südosttürkei (auf den Spuren von Saulus/Paulus). Da habe ich auch Militärregierungen erlebt. Touristen waren da immer willkommen und wurden nicht belästigt, schon gar nicht waren sie Ziele von Attentaten. So war es auch bei unseren häufigen Reisen nach Myanmar (2005 bis 2011). Auch der "Senior General", Than Shwe, behandelte Touristen (viele waren es da noch nicht) mit ausgesuchter Höflichkeit.

Inzwischen hat sich in Myanmar wie auch in der Türkei eine ähnliche Entwicklung gezeigt: Die Türkei entwickelt sich zu einer Islamischen Republik unter maßgeblichem Einfluss von Erdoğan, in Myanmar spaltet sich der Buddhismus auch in einen nationalistischen Buddhismus, der offensiv gegen die muslimische Minderheit der Rohingya vorgeht. Die "Lady", Aung San Suu Kyi, ist zwar kein nominelles, aber sehr wohl faktisches Staatsoberhaupt. Sie kann oder will da nicht eingreifen. Myanmar wird derzeit vom Turbokapitalismus überrollt. Wir kennen auch die Situation in Indonesien. "Jokowi" ist kein Autokrat. Bei der nächsten Präsidentenwahl wird er vielleicht abgewählt. Auch da zeigt sich eine Radikalisierung des Islams. Religiöse Radikalisierung wirkt stets abschreckend auf den Tourismus.

Hans-Dieter Dauphin, Ingolstadt

Verhaftung auf Verdacht

Es ehrt Detlef Esslinger, dass er Partei für die "kleinen" Leute in der Türkei ergreift, die unter einem Reiseboykott zweifellos am ehesten zu leiden haben. Dennoch bringen Reisende Devisen, und Devisen bringen wirtschaftlichen Aufschwung. Einen Aufschwung, den Recep Tayyip Erdoğan mit Sicherheit als Erfolg seiner Politik verkaufen würde. Das spräche gegen einen Türkeiurlaub.

Einen sehr wichtigen Aspekt eines Reiseboykotts hat der Autor aber leider außen vor gelassen: Wie man sieht, kann man zurzeit in der Türkei auf bloßen Verdacht hin verhaftet und weggesperrt werden. Die Begründungen, wenn es denn solche gibt, sind fadenscheinig und bestehen im Allgemeinen aus Plattitüden wie Terrorverdacht, Kontakt oder Sympathie zur Gülen-Bewegung. Da ich mir einen Aufenthalt in einem türkischen Gefängnis nicht unbedingt als Abenteuerurlaub ausmalen kann, werde ich deshalb vorerst auf Türkeireisen verzichten. Das ist nämlich der Unterschied zum Beispiel zu Südfrankreich: Dort herrscht meines Wissens noch immer ein Rechtsstaat mit einer unabhängigen Justiz. Tut mir echt leid für den Mann am Hafenkiosk oder den Kellner.

Peter Butzbach, Köln

Kniefall in Moskau

Die Fakten, die ich vergangenen Sommer in der Türkei selbst erlebt habe, widersprechen diametral den Ansichten Ihres Journalisten. Die von Russen besuchten Hotels waren zu 95 Prozent leer, weil die Türkei ein russisches Flugzeug abgeschossen, die Türkei sich nicht dafür entschuldigt hatte und deshalb von Seiten Russlands ein Flugverbot für die Türkei verhängt wurde. Und was hat Erdoğan gemacht, als er merkte, dass ihm dadurch Devisen fehlen? Er ist nach Russland gefahren und hat vor Wladimir Putin einen Kniefall gemacht. Nur auf diese Weise sind solche Leute in die Schranken zu weisen, denn die Türkei braucht dringend ausländische Investitionen und Devisen. In den vergangenen Tagen ist sogar im Radio die Vermutung geäußert worden, dass nach den Verhaftungen kritischer Journalisten etc. diese Maßnahmen auch auf unbeteiligte Touristen ausgedehnt werden könnten.

Udo Kiechle, München

Alles muss auf den Prüfstand

Die Verhaftung des Berliner Menschenrechtlers Peter Steudtner in der Türkei sollte die Bundesregierung endlich zum Anlass nehmen, eine härtere Gangart einzuschlagen. Die Einbestellung des türkischen Botschafters ins Auswärtige Amt kann da nur ein erster Schritt sein. Nun sollten wirtschaftliche Sanktionen in Absprache mit der EU folgen. Außerdem sollte eine Reisewarnung für die Türkei ausgesprochen werden, denn kein Tourist kann dort jetzt noch sicher sein. Und die Nato-Mitgliedschaft der Türkei sollte auf den Prüfstand gestellt werden. Kanzlerin Angela Merkel sollte sich darüber im Klaren sein, wenn sie den "Kuschelkurs" gegenüber Erdoğan nicht endlich beendet, wird sie bei der Bundestagswahl die Quittung bekommen.

Thomas Henschke, Berlin

Längst überfällig

Bravo, Sigmar Gabriel! Diese Sanktionen gegen Erdoğans Türkei sind längst überfällig - egal, ob es Deutschland auch wehtut. Der türkische Präsident hat Deutschland und die EU am Nasenring vorgeführt. Das muss endlich aufhören. So kommt für mich Politik wieder auf die richtige Spur.

Helga Bischof, Kiel

© SZ vom 22.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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