Wer im Osten Deutschlands aufwuchs, reiste bis 1989 vor allem mit dem Finger auf der Landkarte. Um die Chancen für reales Reisen zu erhöhen, lernte ich in der Schule Englisch und Französisch. Mosambik, Algerien, also jene Länder lockten, die sich, wie es damals hieß, auf dem sozialistischen Weg befänden. Dann verschwand der Eiserne Vorhang und das Leben spülte mich einige Jahre später an einen Ort, von dem aus Bürger sich tatsächlich aufgemacht hatten, einen besonderen Weg zu gehen: als Europäische Union. Ich wurde Korrespondentin der SZ in Brüssel - und geriet in einen undurchdringlich erscheinenden Kosmos. Mit einer Regel, die mir zunächst absurd erschien: bloß keine Namen nennen. Schnell wurde mir klar: Wo sich 28 Nationalstaaten verabredet haben, friedlich miteinander zu leben, herrscht die Diplomatie. Und diese macht Brüssel zu einer Bühne, auf der ein Schauspiel in wechselnden Variationen und Besetzungen aufgeführt wird. Ob es um Sanktionen gegen Russland geht, die Vertiefung der Währungsunion, ein Flüchtlingskonzept oder Olivenölkännchen, immer rangeln die Nationalstaaten darum, Interessen auszugleichen - und zwar vertraulich, um souveräne Staaten nicht bloßzustellen. Aus dem Botschafter Frankreichs wird so ein hoher Diplomaten eines großen Euro-Landes. Aus dem Kabinettschef des Kommissionspräsidenten wird ein hoher EU-Beamter; aus dem Chef der Staatssekretäre der Euro-Gruppe ein ranghoher Euro-Unterhändler. Chiffrieren gehört zum Handwerkszeug in Brüssel - solange die EU ein loser Staatenbund bleibt. Von 1. Juni an werde ich die Bühnen in Brüssel und anderswo vom SZ-Hauptstadtbüro aus betrachten. Sicher ist, dass mir das Chiffrieren nicht fehlen wird - das bunte Miteinander von Diplomaten, Beamten, Journalisten, Belgiern womöglich schon.
SZ-Werkstatt:Von Brüssel nach Berlin
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Cerstin Gammelin schrieb sieben Jahre lang über das Europäische Parlament. Jetzt wechselt sie ins Hauptstadtbüro.
Von Cerstin Gammelin
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