SZ-Werkstatt:Mücke an der Wand

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Tim Neshitov war nach den Anschlägen in Paris beauftragt worden, in Molenbeek zu recherchieren. Umgeben von Hunderten Kollegen hat er so seine Strategie entwickelt.

Von Tim neshitov

Als sogenannter rasender Reporter, zuletzt in Molenbeek, leidet man weniger unter Zeitdruck. Dafür mehr unter den geschätzten Kollegen. Das hat selbstverständlich nichts mit der Qualifikation oder der Persönlichkeit der Kollegen zu tun, sondern mit der üblichen Konstellation: Dutzende, je nach Ereignis Hunderte Journalisten fallen (in unserem Zeitalter fast gleichzeitig) in einem kleineren Ort ein. Sie verrichten ihren Job, aber durch die schiere Menge werden sie zum Teil des Ereignisses. Je mehr die Kollegen sich dessen bewusst sind, desto mehr schätzt man sich gegenseitig.

Die meisten Bewohner kleinerer, aber auch größerer Orte verhalten sich vor einer Kamera anders als sonst. Und vor 37 Kameras verhält sich jeder Mensch anders als sonst. Als Reporter einer Zeitung hegt man aber mit seinem kleinen, jederzeit versteckbaren Notizblock die Illusion, eine unverfälschte Realität einfangen zu können (berufliches Vorbild: Mücke an der Wand). Stirbt diese Illusion, kann man gleich Drehbücher schreiben - was aber auch nicht so einfach sein soll. Also sucht man sich Nischen unverstellten Alltags, beobachtet Menschen, die sich nicht beobachtet fühlen. Das ist gewiss schwerer als vor hundert Jahren, aber es gelingt immer wieder.

Der Brüsseler Stadtteil Molenbeek ist ein Sonderfall. Hier, in einem Ort, der zu einem Basislager des IS in Europa geworden ist, ärgerten sich einige friedliche Bewohner lautstark über die tagelange Invasion der Journalisten. Sie hatten die Sorge, dass man sie stigmatisiere. Sie konnten nicht nachvollziehen, dass die Welt endlich etwas mehr über Molenbeek erfahren will, als dass es eigentlich ein friedliches Nest ist. Diese Haltung hat mehr verstört als die raumgreifendsten Fernsehkollegen mit den längsten Stativen.

© SZ vom 21.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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