SZ-Werkstatt:Das ist meine Tochter

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Nadia Pantel über das Alltägliche an Orten, die von der Welt neuerdings nur noch als Krisengebiete wahrgenommen werden.

Von Nadia Pantel

Ich habe mich daran gewöhnt, an Orte zu fahren, die ich aus dem Fernsehen kenne und deren Namen ich vorher noch nie gehört habe. Idomeni, Brežice, Šid, Tovarnik. Dort treffe ich auf Menschen, die von diesen Orten vorher auch noch nie etwas gehört haben. Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, Iran, manchmal auch aus Pakistan oder Somalia. Und dann stehen wir dort gemeinsam vor einem Zaun oder sitzen an einer Tankstelle. Ich kurz mal eingeflogen, sie ungeduscht, übermüdet, getrieben.

Das macht es unmöglich, nach so einer Recherche zu sagen, dass es gut gewesen sei. Weil es ein Grundzustand ist, der einfach nicht gut ist. Dafür muss man nicht linksradikal sein und für die Auflösung jeglicher Landesgrenzen. Man müsste einfach nur sehr stumpf sein, um zu glauben, dass jeder von uns Hunderten, die da im Niemandsland herumlaufen, genau das bekommen hat, was er verdient.

Am Anfang habe ich noch damit gerechnet, dass mich irgendwann mal jemand anschreit. Dass irgendjemand sagt: Geht's noch? Du schreibst kurz mal "Schlamm, Müll, kalt" in deinen Block und gehst dann zu deinem Hotel? Stattdessen ist alles erstaunlich normal. Andererseits: Warum auch nicht? Ich schreie in München ja auch nur selten SUV-Fahrer oder Loft-Bewohner oder andere Menschen an, die mehr haben als ich.

Und so stehe ich also in Idomeni und überlege, was jenseits von Schlamm und Müll erzählenswert ist. Während ich überlege, kommt meistens jemand und will reden. Es ist ja unfassbar langweilig an diesen Grenzen, warum also nicht ein bisschen Zeit damit verbringen, Englisch zu üben. Letztendlich ist das dann das Erzählenswerte, das bleibt. Dieses Alltägliche, Unaufgeregte, dieses "Ich war mal Friseur, das ist meine Tochter", dieses höfliche, betretene Schweigen, wenn die Worte fehlen. Diese Momente, in denen man spürt, dass Menschen auch in entwürdigenden Bedingungen Menschen bleiben und manchmal sogar Witze machen.

© SZ vom 19.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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