Pflege:Ohne Polin wird es schwer

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Silke Niemeyer hat jüngst in einem Gastkommentar kritisiert, dass in unserer heutigen Gesellschaft alte Menschen ins Heim und kleine Kinder in die Kita abgeschoben würden. Eine Leserin hingegen verteidigt dieses Lebensmodell.

" Die Polin bleibt" vom 16./17. Juni:

Es sind nicht nur Marktzwänge oder Egoismus, die Eltern hoffen lassen, Beruf und Kinderbetreuung unter einen Hut zu bringen, sondern unter anderem auch die Tatsache, dass Kinder in einer guten Kita Freunde und Freude finden. Und ob die Pflege der alten Eltern oder gar die Sterbebegleitung zu Hause funktionieren kann, hängt entscheidend davon ab, ob Eltern und ihre erwachsenen Kinder die erforderliche körperliche und emotionale Nähe zueinander ertragen - und ob die Pflegenden sich dieser Aufgabe überhaupt gewachsen sehen. Es ist auch kein Zeichen mangelnder Hingabe, sondern für alle Beteiligten hilfreich, wenn sich jemand eingesteht: Ich ertrage es nicht, meiner geliebten Mutter 24 Stunden am Tag beim Sterben zuzusehen. Oder: Ich fühle mich überfordert, selbst zu entscheiden, ob ich ihr in diesem Moment Morphin spritzen sollte und in welchen Mengen.

Wie schön wäre es, wenn es in solchen Situationen genügend gut geführte Einrichtungen mit genügend Plätzen gäbe. Leider haben wir die nicht, was in einem reichen Land wie unserem eigentlich ein Skandal ist. Silke Niemeyer aber fordert stattdessen unsere individuelle "Aufopferung" als Beleg dafür, dass wir uns auch wirklich um die sorgen, die uns nahestehen.

Das ist anmaßend und würdigt alle herab, die sich um geliebte Menschen kümmern wollen, ohne sich dabei selbst völlig aufzureiben. Altenheime, Hospize, Pflegekräfte und auch Kitas können Angehörige entlasten - ihnen also die Zeit und den seelischen Puffer für das geben, was beim "Sorgen" um Nahestehende am wichtigsten wäre: mit ganzem Herzen und möglichst viel Kraft für sie da zu sein.

Marion Meyer-Radtke, Berlin

Seelenlose Gesellschaft

Ein bemerkenswerter Essay, dem ich weite Verbreitung wünsche. Silke Niemeyer benennt präzise, woran die Gesellschaft krankt, die sich nur am Geld orientiert. Lebensanfang und Lebensende sind Investitionsmodelle, seelenlos und an den wirklichen Bedürfnissen der Menschen vorbeigeplant. Matthias Franz (Professor für Psychosomatik an der Universität Düsseldorf) hat in diesem Zusammenhang auch davon gesprochen, dass Frauen inzwischen zur "industriellen Reservearmee" der Rentenkassen einberufen wurden. Fazit: Wir müssen unsere Systeme transformieren. Mit einer Wende ist das nicht getan. Dem Kapitalismus müssen Grenzen gesetzt werden.

Dr. Christoph Dembowski Rotenburg (Wümme)

© SZ vom 05.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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