Mathe:Lasst die Schüler die Fragen stellen

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Erst kürzlich startete die SZ auf ihrer Seite "Schule und Hochschule" eine Mathemaik-Debatte. Leserinnen und Leser führen diese nun auf der Forumseite weiter. Einige wollen, dass man endlich die Schüler mehr in den Unterricht einbezieht.

"Mathematik-Debatte" vom 2. Mai:

Ein Entwurf des Möglichen

Die Mathematik-Debatte in der Süddeutschen Zeitung greift insofern zu kurz, als sie mit der Fokussierung der Diskussion auf das beklagenswert niedrige Rechenniveau deutscher Schüler ein Phänomen in den Mittelpunkt stellt, das weniger den Missstand darstellt, als dass es Teil des Missstandes ist: die stark übertriebene Bedeutung, die dem Rechnen im deutschen Schulwesen zukommt.

Sicher ist die Beherrschung des Rechnens wie auch des Schreibens und Lesens eine wichtige, tatsächlich unverzichtbare Kulturtechnik - und überdies eine Voraussetzung für Mathematik, aber es ist eben nicht Mathematik. Mathematik ist eher die Kunst, das Rechnen durchs Denken überflüssig zu machen, und zwar mithilfe verschiedenster Kniffe und Methoden, die von der einfachsten Klammer- und Zusammenfassungstechnik bis zur elaborierten unendlichen Summation oder auch Differentiation reichen.

Mehr noch: Mathematik ist weniger Wirklichkeits- denn Möglichkeitswissenschaft; sie ist die Wissenschaft vom Ausloten des Beweisbaren, nicht des Faktischen. Die Quintessenz der Mathematik liegt im geschickten Konstruieren von Begriffen mittels verschiedenster Konzepte wie der Zahl, des Zufalls oder der Umgebung, des Unendlich-Kleinen und des Unendlich-Großen, der Menge und der Funktion und vieler anderer Konzepte mehr. Und doch wird gerade dieser Unterschied zwischen der Mathematik als Dienender im Schlepptau der empirischen Wissenschaften und als konstruktiver, nur sich selbst verpflichteter apriorischer Disziplin in Deutschland, dem Land der notorischen Mathematik-Verächter, ignoriert, verdrängt und überspielt.

Wer aber nie zur Kenntnis nimmt, was in Mathematik drinsteckt: die Anstiftung zum Entwurf von Möglichkeiten, ja zum Möglichkeitsmenschen, wie Robert Musil ihn in Gestalt seines Protagonisten Ulrich im "Mann ohne Eigenschaften" skizziert, wer nie zur Kenntnis nimmt, wozu Mathematik taugen kann - nämlich Entwürfe des Nicht-Empirischen, logisch Möglichen zu durchdenken, zu konstruieren oder auch zu verwerfen -, kann sich vom Diktat der bloßen Verwaltung und Verwertung des Bestehenden auch nicht befreien, ist auf ewig auf das Stigma der kalt rechnenden Vernunft zurückgeworfen.

Viele der Mathematik fernstehende Menschen, dazu zählen häufig Schüler, halten die Mathematik für eine definitiv beschlossene, seit Urzeiten bestehende Sammlung von Wissensbeständen, deren Erkenntnisse nur der nachträglichen Einholung und Aneignung harrten. Danach wäre Mathematik-Lernen auf ewig ein Hinterherlaufen, ein gequältes Reproduzieren von schon bekanntem Stoff. Nein, dies ist nicht Mathematik; Mathematik erfordert zuallererst den frei denkenden Geist, der mit seinen Interessen, Zielsetzungen und Fragestellungen vorangeht, um die Wissenschaft weiterzutreiben. Wie wäre es, Schüler im Mathematik-Unterricht selbst zur Entwicklung neuer Perspektiven, neuer Fragestellungen zu ermächtigen? Wenn überhaupt, dann läge hier ein Ansatz, diesen Unterricht zu reformieren: im Sinne einer Förderung des methodischen Denkens, des logischen Schließens, des spielerischen Konstruierens von Lösungen für Probleme, vor die sich die Subjekte selbst gestellt sehen.

Dr. Werner Kutschmann, PD für Erziehungswissenschaften, Goethe-Universität, Frankfurt am Main

Berechne die Größe der Pflanze

Ich bin gerade Abiturientin und kann deshalb die Kritik an dem jetzigen Unterricht gut nachvollziehen. Der Matheunterricht ist tatsächlich sehr abstrakt und für weniger begabte und interessierte Schüler deshalb sehr schwer. Die Anwendungsaufgaben gleichen dies nicht aus, da sie zu großen Teilen inhaltlich sinnlos und unglaubwürdig sind. So musste ich einmal über Integrale die Größe einer Zimmerpflanze ausrechnen, was im täglichen Leben wahrscheinlich keiner tut.

Auf der anderen Seite doppeln sich teils in gesellschaftswissenschaftlichen Fächern die Inhalte, was der Motivation der Schüler nicht gerade hilft. Beispielsweise wurde in der zwölften Klasse das Thema Globalisierung dreimal besprochen, in Englisch, Geografie und Sozialkunde, was dann auch irgendwann mal genug ist.

Ich bin der Meinung, dass der Lehrplan erneuert werden muss. Doppelungen von Themen müssen gestrichen werden; stattdessen sollten Themen aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden. In den naturwissenschaftlichen Fächern sollte das im Matheunterricht Gelernte Anwendung finden; Anwendungsbeispiele und -aufgaben im Matheunterricht sollten auch glaubwürdig erscheinen. In den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern sollten (je nach Thema) auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse einbezogen werden und umgekehrt.

Elina Köster, München

Der Lehrplan stört die Kreativität

Gemeinsam ist allen drei Plädoyers der Mathematik-Debatte vor allem auch die Klage über fehlendes Interesse der Schüler - an Mathematik (erster und zweiter Artikel) bzw. an den "Geisteswissenschaften" (dritter Artikel). Keiner der Artikel kommt aber auf die einfache Idee, die Betroffenen selbst zu fragen, nämlich die Schüler. Viel wird gemutmaßt: Was könnte die Schüler bloß interessieren? Wie vermitteln wir nur Begeisterung? Sich aber im Unterricht unmittelbar an den Interessen der Schüler zu orientieren, steht merkwürdigerweise nicht zur Debatte. Nun ließe sich einwenden, dass ein Schüler antworten könnte, ihn interessiere überhaupt nichts oder jedenfalls nichts aus dem Angebot, das in der Schule bereitsteht. Zum einen halte ich das für unwahrscheinlich, schließlich hat doch jeder zumindest sein Lieblingsfach. Zum anderen bedarf es selbstverständlich einer gewissen Führung des Lehrers bei der Suche nach Interessenschwerpunkten, einer Führung durch den unendlichen Reichtum an Phänomenen, die dem Menschen begegnen können (idealerweise sollte dazu die Grundschule dienen). Ausgehend von einem gefundenen Interesse lassen sich dann Verknüpfungen herstellen zu anderen Bereichen, von denen ein Schüler möglicherweise nicht geahnt hätte, dass sie mit seinem Interesse in Verbindung stehen und ihm bei der Beschäftigung damit helfen können. Er erkennt dadurch auch, dass eine breite Allgemeinbildung in jedem Bereich nützlich ist.

Um Individualinteressen in der Schule besser berücksichtigen zu können, müssten Klassen letztendlich danach gebildet werden, dass sie gleiche Primärinteressen zusammenfassen, ähnlich wie es der erste Artikel vorschlägt. Doch auch im herkömmlichen Schulsystem können Schülerinteressen bereits stärker zur Geltung kommen. Das Prinzip sollte lauten (freilich gibt es Ausnahmen): Nicht die Lehrer stellen Fragen, worauf Schüler auswendig gelernte Antworten abspulen, sondern die Schüler stellen Fragen, die sie interessieren, woraufhin gemeinsam Antworten gesucht und diskutiert werden. Leider sind viele Lehrer dazu nicht in der Lage, da sie aufgrund eines abzuarbeitenden Lehrplans unter Zeitdruck stehen, (vermeintlich) objektive Kriterien für die Notenvergabe benötigen und infolge dieser Umstände oft selbst schon die Lust an ihrem Unterricht verlieren. Mehr Freiheit für die Lehrer wäre daher als Voraussetzung für einen stärkeren Individualfokus wünschenswert.

Felix Aiwanger, München

sym-pathein

"Fragen, verstehen, mitfühlen" vom 2. Mai: Mir fiel zu diesem Artikel ein Gedicht von Dorothee Sölle (1929-2009) ein, in dem aufscheint, wie wichtig römische und griechische Literatur und Philosophie für unser Selbstverständnis im Kontext der Geisteswissenschaften auch sind: "meine junge tochter fragt mich/ griechisch lernen wozu/ sym-pathein sage ich/ eine menschliche fähigkeit/ die tieren und maschinen abgeht/ lerne konjugieren/ noch ist griechisch nicht verboten" [Gedicht ohne Interpunktion, sym-pathein = getrennt im Originaltext von 1978]

Joachim Krause, Wachtberg

© SZ vom 18.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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