Kapitalismus:Dieses Mäntelchen wärmt keinen

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Ein Leser, der 30 Jahre lang in der Entwicklungshilfearbeit in Asien und Afrika tätig war, erweitert die Argumente in der Kapitalismus-Kritik von Andreas Zielcke um eine historische und kulturelle Dimension.

"Institutionell dumm" vom 19. März:

Ich bin dreißig Jahre lang im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Afrika und Asien unterwegs gewesen. Die Analyse Andreas Zielckes zum Thema Kapitalismus trifft den Nagel auf den Kopf; sie drückt aus, was viele dumpf fühlen, aber nur wenige klar aussprechen. Allerdings möchte ich, die Argumente um zwei Dimensionen erweitern: die historische und die kulturelle.

Als 1989 die Mauer fiel, die Russen sich aus Afghanistan zurückzogen, als 1990 das Sowjetimperium zusammenbrach, hatte die Aufteilung der Welt in eine Erste, Zweite und Dritte ein Ende. Der Liberalismus westlicher Prägung hatte über den Kommunismus sowjetischer Prägung gesiegt. Die Welt war überzeugt - jedenfalls die westliche - , die Fortschreibung der materialistisch liberalistischen Anschauung führe - jetzt global ausgerichtet - zum Paradies auf Erden (im Prinzip identisch mit dem marxistischen Ansatz, nur mit anderem Vorzeichen). Sehr bald haben wir aber gemerkt, dass dies ein Irrtum war. Geändert hat dies freilich nichts. Um einen Tanker zum Umkehren (oder Sinken) zu bringen, bedarf es mindestens eines Eisbergs.

Dem globalen Ansatz inhärent ist der kulturelle Faktor. Die Erste Welt ist im Wesentlichen auf das ehemals christliche Abendland beschränkt, ergänzt durch Nordamerika. Mit dem Zusammenbruch der Zweiten Welt werden plötzlich Kulturen mit dem materialistischen Liberalismus der Ersten Welt konfrontiert, die zuvor durch den Eisernen Vorhang "geschützt" waren. Dies führt zu heftigen Reaktionen, die in der Ersten Welt kaum wahrgenommen, geschweige denn verstanden werden. Die Maximierung der Gewinne führt zum Primat der Quantität gegenüber der Qualität. Möglichst viel möglichst preisgünstig zu produzieren (und zu verkaufen) ist die Maxime. Dies hat zur Folge, dass Produktionsstätten in Regionen mit extrem niedrigem Arbeitslohn verlegt werden. Die dort produzierte Ware ist jedoch ausschließlich für die Märkte im Westen bestimmt.

Auf diese Weise soll auch in den sogenannten Drittländern der Wirtschaftskreislauf angekurbelt werden: Die Leute verdienen Geld, kaufen Waren, investieren etc. Dies ist das moralische Mäntelchen, das dem Vorgehen umgehängt wird. Doch dies Mäntelchen wärmt niemanden. Es ist eine bewusste Lüge. Dr. Ingolf Vereno, Staufen

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© SZ vom 09.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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